Schimpfen? Es geht auch anders. von Erik Sigsgaard

 

„Worum geht es in diesem Buch? Um Erziehung, könnte man sagen....“ Erik Sigsgaard

 

 

Inhalt


Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11
Kapitel 1  Wann werden Kinder gescholten?  . . . .  15   
    Körper und Lebenshunger  . . . . . . . . . . .  16
      Mach Platz für die Freude  . . . . . . . . .  16
      Wir waren gut drauf  . . . . . . . . . . . .  17
      Ein guter Mensch . . . . . . . . . . . . . .  18
      Cheerleader  . . . . . . . . . . . . . . . .  19
    Das tut man nicht  . . . . . . . . . . . . . .  20
      Kackschlange . . . . . . . . . . . . . . . .  20
      Das brauche ich  . . . . . . . . . . . . . .  20
      Privat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21    
      Weg mit den Farben . . . . . . . . . . . . .  21
      Waldspaziergang  . . . . . . . . . . . . . .  22
    Fragen stellen, betteln und Willen durchsetzen  23
      Im Supermarkt  . . . . . . . . . . . . . . .  23
      Das, was ICH will  . . . . . . . . . . . . .  24
      Der Wille ist „der schönste Baum im Wald“  .  26
      Immer diese Fragerei . . . . . . . . . . . .  28
      Wenn Schweigen Gold ist  . . . . . . . . . .  29
      Die Mondbrücke – Gedankenexperimente . . . .  30    
    Misstrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . .  32    
      Hausaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . .  32
      Mia oder die Kaserne . . . . . . . . . . . .  34
      Der Regenwurm  . . . . . . . . . . . . . . .  34
    • Was kann man aus diesen Geschichten lernen?   36
Kapitel 2 Welche Auswirkungen hat Schimpfen
          auf Kinder?  . . . . . . . . . . . . . .  39
      Ich würde euer Eis nicht zum Schmelzen
      bringen  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  40
      Hat dieser Kindergarten eine Elsa? . . . . .  40
      Weine nicht über verschüttete Milch  . . . .  42
      Schon gut! . . . . . . . . . . . . . . . . .  43
      Ein gebranntes Kind scheut das Feuer . . . .  44
      Steh auf!  . . . . . . . . . . . . . . . . .  45    
      Schimpfen in der Öffentlichkeit  . . . . . .  47
      Spielen wir? . . . . . . . . . . . . . . . .  48
      Innerlich zerbrechen . . . . . . . . . . . .  50
    • Was haben wir daraus gelernt?  . . . . . . .  51
Kapitel 3 Wie kann Schimpfen verhindert werden?  .  53  
      Ich glaube an dich . . . . . . . . . . . . .  53
      Die Mutter sieht und versteht  . . . . . . .  55
      Eifersucht zwischen Geschwistern . . . . . .  56
      Du bist zu klein . . . . . . . . . . . . . .  58
      Ich liege nur und liege  . . . . . . . . . .  60
    Wie entstand der Stress der Kinder?  . . . . .  61
      So schön könnte es sein  . . . . . . . . . .  64
      Ein richtiger Kindersommer . . . . . . . . .  65
    • Emotionale Wärme in der Beziehung zu Kindern  68
Kapitel 4 Weniger Schimpfen zu Hause –
          ein Projekt zur Eltern­unterstützung  . .  69   
    Was ist ein Unterstützungsprojekt? . . . . . .  71
    Gruppengespräche . . . . . . . . . . . . . . .  72
      Fallstricke  . . . . . . . . . . . . . . . .  75
    Die Geschichten der Eltern . . . . . . . . . .  76
      Die Beurteilung des Projektes durch
      die Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . .  78
    Was waren die Ergebnisse des Projektes?  . . .  80
    • Einige Tipps, wie man Schimpfen
      vorbeugen kann . . . . . . . . . . . . . . .  81
Kapitel 5 Essen ist fertig!  . . . . . . . . . . .  83
      Ich habe das Ei aufgenommen  . . . . . . . .  84
      Klingelnde Jausendose  . . . . . . . . . . .  85
      „Die Banane zuletzt“ - so steht es im Gesetz  86     
      Gerechtigkeit  . . . . . . . . . . . . . . .  88
      Will nicht essen!  . . . . . . . . . . . . .  89
      Iss dein eigenes Essen!  . . . . . . . . . .  90
      Iss, damit du groß und stark wirst!  . . . .  91
      Hering und Schokopudding . . . . . . . . . .  92
      Passt es dir, jetzt zu essen?  . . . . . . .  93
    Kinder essen, was sie brauchen . . . . . . . .  94
    • Essenstipps  . . . . . . . . . . . . . . . .  97
Kapitel 6 Schlaf gut . . . . . . . . . . . . . . .  99
      Ein guter Tagesausklang ist wichtig  . . . . 100
      Schlafenszeit  . . . . . . . . . . . . . . . 102
    • Tipps zur Schlafenszeit  . . . . . . . . . . 104
Kapitel 7 Normen und Pflichten   . . . . . . . . . 105
    Sozial sein  . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
      Lächeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
      Er ist anders  . . . . . . . . . . . . . . . 108
      Palmeninsel  . . . . . . . . . . . . . . . . 109
      Lieb und gefährlich zugleich . . . . . . . . 112
      Wo ist denn der liebe Jesper geblieben?  . . 113
    Wieso wird geschimpft? . . . . . . . . . . . . 115
      Schimpfen aus Angst und Wut  . . . . . . . . 116
      Eltern und Kinder leben in verschiedenen
      Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
      Schimpfen als Reflex . . . . . . . . . . . . 118
      Soziale Kontrolle und Schimpfen  . . . . . . 119
      Schimpfen als Übertragung  . . . . . . . . . 120
    Kinder im Widerstand . . . . . . . . . . . . . 121
      Die Uhr – oder als ich meine Zeit
      wiederbekam  . . . . . . . . . . . . . . . . 121
      Uhren, Geld und Schlüssel  . . . . . . . . . 122
      Dann lieber in die Tanzschule  . . . . . . . 122
      Der Turm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
      Allmacht und Ohnmacht  . . . . . . . . . . . 125
      Du zerstörst meine Zeit  . . . . . . . . . . 126
    Behüten Sie, aber bitte nicht zu viel! . . . . 127
      Ein Traum  . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
      Überbehütung . . . . . . . . . . . . . . . . 128
      Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
    Stehlen, lügen, petzen . . . . . . . . . . . . 132
    Normen und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . 134
      Alles zu seiner Zeit . . . . . . . . . . . . 134
      Sofort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
      Aufbau und Abbruch . . . . . . . . . . . . . 136
    Macht, Schuld und Gewissen . . . . . . . . . . 137
      Du machst ihm Schuldgefühle  . . . . . . . . 137
      Kein Gewissen  . . . . . . . . . . . . . . . 138
      Wenn du drohst, bekommst du gar nichts!  . . 139
      Zwiebelvandalen  . . . . . . . . . . . . . . 140
      Kopfwäsche . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
    Begegnung oder Konfrontation . . . . . . . . . 143
    Pflichten und Verpflichtetsein . . . . . . . . 146
    • Tipps bezüglich Pflichten  . . . . . . . . . 148
Kapitel 8 Wer soll bestimmen?  . . . . . . . . . . 149
      Macht und Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . 149
      Macht und Ohnmacht II  . . . . . . . . . . . 150
    Wie sehen Erwachsene Kinder? . . . . . . . . . 151
      Kinder sind lustig . . . . . . . . . . . . . 151
      Sie haben mich ausgelacht  . . . . . . . . . 152
      Liebe Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . 153
      Gibt es aggressive Kinder? . . . . . . . . . 154
      Kinder sollen nicht angepasst sein –
      es muss ihnen gut gehen  . . . . . . . . . . 156
      Kind sein – Kind haben . . . . . . . . . . . 157
      Auf den Boden der Realität . . . . . . . . . 158
    Bestimmen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
      Macht über den eigenen Körper  . . . . . . . 160
      Die Kinder wissen, wo die Erwachsenen sind . 162
      Ein Hundeleben . . . . . . . . . . . . . . . 163
      Wenn du sagst, dass das ein Feld ist,
      dann ist es ein Feld . . . . . . . . . . . . 165
    • Summa summarum . . . . . . . . . . . . . . . 167
Kapitel 9 Wenn’s schon passiert ist - Trost und
          Hilfe und wie man sich bei seinem
          Kind entschuldigen kann  . . . . . . . . 169
      Trost  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
      Einmischung  . . . . . . . . . . . . . . . . 171
    Trost schafft Geborgenheit . . . . . . . . . . 173
      Entschuldigung . . . . . . . . . . . . . . . 174
Kapitel 10 Erziehung und Schimpfen im Wandel
           der Zeit weltweit - und die Erziehung
           von morgen  . . . . . . . . . . . . . . 175
      Erziehung in längst vergangenen Zeiten . . . 176
    Erziehung in anderen Kulturen  . . . . . . . . 178
    Ist ein Muster erkennbar?  . . . . . . . . . . 183
    Und die Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . 186

    Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

 

Anmerkungen des Verlages

Im Sinne einer guten Lesbarkeit wurde auf gendergerechte Schreibweise wie PädagogInnen, TeilnehmerInnen usw. verzichtet, es mögen sich aber bitte jeweils weibliche und männliche Personen angesprochen fühlen.

Der Begriff Schimpfen umfasst neben dem direkten Gebrauch von Schimpfworten auch verschiedene Arten von wenig zielführendem oder respektlosem Umgang mit anderen, wie zum Beispiel: anbrüllen, fluchen, maßregeln, niedermachen, rügen, schmähen, tadeln oder zurechtweisen, um nur einige zu nennen.

Einleitung

Worum geht es in diesem Buch? Um Erziehung – könnte man sagen. Vielleicht ist es aber besser zu sagen, dass sich das Buch mit der Beziehung zwischen Kindern und Eltern beschäftigt. Im Mittelpunkt stehen Geschichten, die von Kindern und ihren Eltern handeln. In anderen erzähle ich von der Beziehung zwischen Kindern oder zwischen Kindern und anderen Erwachsenen.

Im Buch finden Sie viele „gute Geschichten“. Ich sammle Geschichten, so wie andere Fotos sammeln. Sie handeln davon, wie es unseren Kindern und uns geht. Auch wenn manche Geschichten lustig sein mögen, wurden sie vielmehr ausgewählt, weil sie über das Kind, den Erwachsenen, die Beziehung zwischen ihnen, die Zeit und die Gesellschaft Auskunft geben. Und was teilen sie uns mit? Ja, das kommt darauf an, wer sie interpretiert.

Und in diesem Fall werde ich, Erik Sigsgaard, die Geschichten interpretieren. Ich bin dänischer Lehrer und Magister der Pädagogik, habe Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche sowie angehende Kindergartenpä­dagogen unterrichtet und schreibe Bücher. Ich habe einen Vorstandsposten in einem dänischen Kindertheater und in der heilpädagogischen Institution Ved Stranden. Außerdem bin ich Forscher. Ich habe erforscht, was es bedeutet, wenn man davon spricht, dass Kinder „Grenzen“ bräuchten, und wie es Kindern damit geht. Ich habe auch erforscht, was Kinder brauchen, um Lesen zu lernen, wann sie schulreif sind und was einen guten Kindergarten ausmacht. Derzeit arbeite ich an einem skandinavischen Forschungsprojekt zum kindlichen Nein und was es bei Erwachsenen auslöst.

2002 habe ich ein Forschungsprojekt zum Thema Schimpfen als Mittel für Sanktionen in der Erziehung abgeschlossen. Das dabei in dänischer Sprache erschienene Buch 1 machte auf ein bis dahin nicht beachtetes Thema aufmerksam: wie Kinder in Kindergärten und Schulen gescholten werden. Über Schimpfen als Erziehungsmittel wurde früher kaum gesprochen, es wurde nicht einmal in Nachschlagewerken der Erziehungs­wissenschaften genannt. Heute fragen junge dänische Pädagogen bei einem Bewerbungsgespräch in einem Kindergarten, wie oft mit Kindern geschimpft wird, und Eltern achten besonders auf die Stimmung in Kindergarten und Schule. Die Umgangsformen sind eben wichtiger als schön formulierte pädagogische Ziele. Obwohl ich mich vor allem an Pädagogen wandte und den Alltag in Kindergärten behandelte, haben auch viele Eltern das Buch gelesen und mich aufgefordert, ein weiteres Buch zu schreiben, das sich an Eltern wendet. Hier ist es.

Ob ein Kind eine Schule oder einen Kindergarten besucht, in dem wenig gescholten wird, ist unglaublich wichtig. Nur eines ist wichtiger: wie es dem Kind zu Hause geht. Davon handelt dieses Buch. Kinder, denen es zu Hause gut geht, fühlen sich auch in Schule und Kindergarten wohl und umgekehrt. Geschimpft zu werden gehört zum Schlimmsten, was einem passieren kann. Auch viele Eltern sehen das so. Ich habe im Rahmen eines Projektes mit Eltern gearbeitet, die lernen wollten, weniger zu schimpfen. Kennen Sie jemanden, der sich vorgenommen hat, seine Kinder am nächsten Tag mehr zu schimpfen? Wohl kaum. Wir wollen wohl alle weniger schimpfen und darum geht es in diesem Buch. Es dreht sich also nicht darum, jetzt und auf der Stelle das Schimpfen einzustellen. Vielmehr geht es um einen langwierigen und anhaltenden Veränderungs­prozess. Setzen Sie sich kleine, erreichbare Ziele: seltener und nicht so heftig zu schimpfen. Entschuldigen Sie sich bei Ihrem Kind, wenn Sie doch zu laut geworden sind. Wenn Sie den ersten Schritt getan haben, dann schreitet die Entwicklung schon voran. Daran sind sowohl Eltern als auch Kinder interessiert.

Übertreibe ich nicht, wenn ich ein ganzes Buch dem Schimpfen widme? Der Alltag in der Familie hat ja auch andere Seiten. Stimmt. Deshalb habe ich das Buch auch viel breiter angelegt. Aber die Häufigkeit und Heftigkeit von Schimpfen und Ermahnungen ist ein guter Indikator dafür, wie es den Familienmitgliedern miteinander geht.


Zurück zu den Geschichten. Im Laufe der Jahre habe ich mehr als 1.000 inspirierende Episoden gesammelt. Für dieses Buch habe ich etwa 100 ausgewählt. Diese Methode habe ich nicht selbst erfunden. Jean Piaget, der große Biologe und Psychologe, hat das Gleiche gemacht, um seine Theorie über die Entwicklung von Kindern aufzustellen. So wie der Imker den Honig aus den Waben schleudert, ziehe ich eine Theorie aus den Geschichten. Die Geschichten sind also nicht Beispiele, die die Theorie illustrieren. Vielmehr habe ich aus den Geschichten die Theorie gewonnen.

Die Geschichten erzählen von Kindern und Eltern, die ich kenne, unter anderem davon, wie ich meine Kinder „erzogen“ habe. So wie die Eltern in den anderen Geschichten habe ich mich auch nicht immer gleich geschickt angestellt. Unglaublich, wie oft ich etwas Dummes getan oder gesagt habe! Zum Glück sind Kinder nicht sonderlich nachtragend und Meister der Vergebung. Außerdem kann man ja aus den eigenen Dummheiten lernen, wenn man sie bemerkt. Normalerweise machen uns Kin­­der auf unsere Fehler aufmerksam, wenn wir ihnen zuhören. Vielleicht hilft Ihnen dabei ja auch Ihre Ehefrau oder Ihr Ehemann.

Sie werden in diesem Buch immer wieder gelb hinterlegte Kästchen finden, in denen Forschungsergebnisse anderer in aller Kürze präsentiert werden. Im Zentrum bisheriger Forschung stand vor allem die körperliche Strafe, weil sie als schädlicher eingeschätzt wurde. Aber auch das Schimpfen wurde erforscht. Ich möchte mich für die Recherchen bei den Forschungsförderungsfonds der Gewerkschaften SL (Socialpædago­ger­ nes Landsforbund), BUPL (Forbundet for pædagoger og klubfolk) und FOA (Fag og arbejde) bedanken. Mag. Søren Pedersen hat mit der Bearbeitung vor allem quantitativer Forschungsergebnisse und der Erstel­lung von Fragebögen einen wichtigen Beitrag geleistet.

Meine Forschung habe ich im Zentrum für Institutionsforschung an der Universität UCC Kopenhagen durchgeführt.

Ich will mich bei allen bedanken, die mir mit den Geschichten geholfen haben. Vor allem bei meinem Sohn Asbjørn und meiner klugen Frau Marianne, mit der ich laufend Analysen durchgeführt und Ideen diskutiert habe. Weiters bei meinen Kollegen Ulla Liberg, Henning Kopart, Heidi Hansen und all jenen, die mich beim Projekt Schimpfen unterstützt haben. Vielen Dank an Anne Lindegaard vom University College Lillebelt, die Geschichten ihrer Schüler zum Thema Schimpfen gesammelt hat. Die Lektorin Anne Grete Holtoug unterstützte mich durch gute kritische und kreative Rückmeldungen.

Eine Mutter erzählte ihrer sechsjährigen Tochter, dass sie einen Vortrag besuchen wolle. „Worüber?“, fragte die Tochter. „Schimpfen, weil Kinder meinen, dass es nichts Schlimmeres gibt.“ „Aber Mutter, du weißt schon, was das ALLERschlimmste ist?“ „Nein.“ „Wenn jemand mit mir schimpft, der Kaffee trinkt und raucht!“

Viel Spaß beim Lesen
Erik Sigsgaard
März 2012

Kapitel 1
Wann werden
Kinder gescholten?

„Keine Lebensart ist so kindisch und närrisch
als die Lebensart nach Schnur und Uhr.“
Michel de Montaigne (1580)
²


Will man seltener schimpfen, ist es wohl gut, zuerst zu untersuchen, in welchen Situationen man am meisten mit jemandem schimpft, um dort zu beginnen. Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Manche schreck­en sich über dies, andere werden wütend über das. Aber es gibt wohl auch Gemeinsamkeiten. Mit Kindern wird oft geschimpft:
•    wenn sie körperlich aktiv sind
•    wenn ihre Handlungen gegen übliche Regeln und Normen verstoßen
•    wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen
•    wenn sie fragen und stören.
In diesem Kapitel begegnen uns Kinder zwischen acht Monaten und 15 Jahren, ihre Eltern und andere Bezugspersonen.

Körper und Lebenshunger

Mach Platz für die Freude

Andreas war zwei Jahre alt. Er saß am Boden. Plötzlich rief er: „Es ist wieder so weit!“ Schon stand er auf und lief im Raum herum. Immer schneller und weiter.

Was war da wohl so weit? Vielleicht war es der Lebenshunger, der sich bemerkbar machte. Die Freude am Leben kann so groß sein, dass sie kaum Platz hat im Körper eines Zweijährigen, und dann muss man eben laufen.

Zum Glück hat Andreas eine Mutter, die sehen kann, wann ihn der Lebenshunger packt, und ihm genug Raum für seine freudigen Ausbrüche lässt.

Die Tagesmutter und der Kindergarten wollen ihm diesen Platz sicher auch geben. Aber wenn viele Kinder wenige Quadratmeter teilen müssen, dann kann es bei Freudensprüngen schon eng werden.

Die Dreijährige lief quer durch das Wohnzimmer und blieb plötzlich stehen: „Darf ich hier laufen?“ „Ja natürlich“, antwortete die Mutter, „wo darf man denn nicht laufen?“ „Im Kindergarten. Man darf auch keinen Lärm machen. Weil dort keine Männer sind.“

Früher mussten Kinder mit frisch gekämmtem Haar still sitzen und sich verneigen. Oft aber waren sie unter sich, konnten laut sein, laufen, küssen und raufen. Heutzutage sind fast immer Erwachsene in der Nähe. Die Freiheit, die Kinder früher hatten, muss ihnen heute erst gewährt werden. Sie brauchen die Erlaubnis der Erwachsenen.

Zum Glück erlauben Eltern ihren Kindern heute mehr als früher. Stellen Sie sich vor, wenn Kinder weder zu Hause noch im Kindergarten laufen und laut sein dürften. Was sollten sie bloß mit ihrer Freude, ihrem Zorn und ihrer Kraft anstellen? Die meisten würden diese Regeln brechen und würden dafür häufig gescholten.

Kinder genießen die Ruhe bei Kerzenschein und eine gemütliche Jause [Fussnote: Jause = Imbiss, Pausenbrot] . Wenn aber der ganze Tag ruhig und besinnlich zu sein hat, was ist dann mit dem Körper?

Ich weiß kaum etwas über meinen Großvater. Mit Dreißig war er Bürgermeister, fuhr mit seiner Kutsche durch die Stadt und kam mit jedem ins Gespräch. Seine Kinder durften von Zeit zu Zeit in seinem Bett schlafen. Das weiß ich, weil mein Vater mir erzählte, wie er mit zehn Jahren meinen Großvater wecken wollte, dieser jedoch kalt war. Es muss ein Schock für meinen Vater gewesen sein. Vielleicht war er deshalb nicht in der Lage, mir mehr von meinem Großvater zu erzählen. Mein Onkel erzählte mir 1988, wie schön es am Hof meines Großvaters war. Er konnte sich noch immer mit Freude daran erinnern, wie sich mein Großvater unter dem Esstisch versteckte und furchterregendes Löwengebrüll ausstieß. Das muss etwa 1914 gewesen sein, kurz vor Großvaters Tod.

Wie ist das wohl heute? Dürfen Zehnjährige ab und zu bei uns im Bett schlafen? Verwandeln wir uns manchmal in furchterregende Ungeheuer, vor denen unsere Kinder lustvoll flüchten können?

Ob es jetzt mehr Eltern gibt, die das tun? Darüber wissen wir nichts. Wir können es nur hoffen.

Wir waren gut drauf

Asbjørn, fünf Jahre alt, kam eines Tages vom Kindergarten heim. Er war bestens aufgelegt, fast übermütig. Er konnte es gar nicht erwarten, vom Kindergarten zu erzählen: „Wir haben ein lustiges Spiel gespielt. Wir haben uns immer auf die Polster gestürzt und Katja war auch dabei. Das war so lustig und die Erwachsenen haben gar nichts gesagt. Wir waren gut drauf!“

Keine „Grenzen“. Kein „Seid mal still!“ Der Kindergarten war kurze Zeit keine Institution mehr sondern einfach ... ein Kinder-Garten, in dem Kinder leben, wachsen und gedeihen. Sie durften sich entfalten, weil niemand sie ermahnte, sich zurückzuhalten oder zum Essen zu kommen. Die Kinder konnten sich fallen lassen, Asbjørns Freundin Katja war auch dabei und nichts störte dieses wunderschöne Spiel.

Das Kindergartenpersonal weiß sicher, dass es nicht einfach ist, ein Kindergartenkind zu sein. Es gibt so viele Ge- und Verbote, die für Kinder belastend sein können. Wenn sie ab und zu einfach das tun dürfen, was sie wollen, dann kann nicht von Laisser-faire die Rede sein. Es ist vielmehr ein Ausdruck dafür, dass sich das Personal um die mentale Gesundheit der Kinder kümmert. Davon profitieren alle Kinder, vor allem natürlich die, denen zu Hause diese Freiheit nicht gewährt wird.


Ein guter Mensch

Karl saß beim Frühstück und plauderte mit seiner Mutter. Kurze Nachdenkpause, dann kam es: „Manchmal, wenn ich nicht gut schlafen kann, meint mein Körper, dass ich kein guter Mensch bin.“
Mutter: „Ist es nicht dein Kopf, der das meint?“
Karl: „Nein – es ist mein Körper.“

Karl war fast sechseinhalb. Er ging in eine andere Schule als sein guter Freund Jesper, wodurch er ihn fast aus den Augen verloren hätte. Nach dem ersten Schuljahr arrangierten die Eltern der beiden Burschen ein erstes Wiedersehen. Karl freute sich, genau wie Jesper. Als Jesper ihn mit den Fäusten schlug, war er enttäuscht. Am nächsten Morgen sprach Karl nochmals mit seiner Mutter darüber: „Sein Körper meint vielleicht auch, dass er kein guter Mensch ist, und er hat vielleicht Angst davor,
dass ich das auch so sehe.“

Bald danach erzählte eine Freundin der Familie von einem Gespräch mit ihrem Sohn über Träume und Fantasien. Er schaute nachdenklich aus und sie fragte ihn: „Woran denkst du in deinem Kopf?“

„Ich denke nicht mit dem Kopf. Ich denke mit allem“, sagte er und machte mit einer Hand eine große Kreisbewegung, die den ganzen Körper umfasste.

Die Aussagen der beiden Jungen passen zu dem, was die hervorragenden Theoretiker Pierre Bourdieu und Maurice Merleau-Ponty zur Bedeutung des Leibes für Erfahrungen, Gefühle und Denken sagen. ³ Im Gegensatz dazu steht der sogenannte „Hausverstand“, der besagt, dass zwischen dem Theoretischen und dem Praktischen, dem Musischen und dem Technischen zu unterscheiden sei und dass das Theoretische Vor­ rang vor dem Praktischen habe.


Erwachsene können zum Ausdruck bringen, dass ihnen etwas das Herz bricht oder dass ihnen etwas schwer im Magen liegt. Die Aussagen der Kinder gehen noch weiter.

Sowohl Erwachsene als auch Kinder erleben die Welt mit ihrem Körper. Keine Erfahrung ist ohne den Körper möglich. Bei vielen Konflikten in der Erziehung spielt der Körper eine wichtige Rolle. Es ist die Hand, die die Tasse auf dem Tisch abstellt, und es ist der Darm, der eine lange Kack­schlange macht, um die es in einer späteren Geschichte geht. Es ge­­schieht immer wieder, dass man sich im eigenen Körper nicht wohlfühlt, und manchmal macht er etwas gegen den Willen des Kopfes. Der Kopf sagt: „Ich will sein wie eine liebe Katze oder wie die warme Sonne.“ Aber der Körper schlägt einfach zu und trifft den besten Freund am Kopf.

Kinder sind bemüht, gute Menschen zu sein, und oft haben sie den Eindruck, daran zu scheitern. Das kann daran liegen, dass sie, was un­ver­meidbar ist, die Gefühle anderer verletzen, indem sie jemandem die Freundschaft ausschlagen oder jemanden verlassen, Erwartungen anderer enttäuschen oder sich abgrenzen: Das ist unvermeidbar und gehört zum Leben dazu. Für ein junges, empfindsames Kind, das sich an solche Erfahrungen noch nicht gewöhnt hat, kann das sehr schmerzhaft sein. Dazu kommen vielleicht noch Scham und ein schlechtes Gewissen, das ihm in der Erziehung eingeimpft wurde.

Vielleicht sollten Erwachsene sich nicht so viel damit beschäftigen, Kinder zu besseren Menschen erziehen zu wollen. Würden wir einen guten Umgang mit unseren nahen und fernen Mitmenschen pflegen, hätten unsere Kinder bessere Vorbilder.

Und die Erwachsenen könnten sich entspannen und besser schlafen.


Cheerleader

Eine 15-jährige Schülerin erzählt:

„Wir jubelten, feuerten an und schrien uns die Seele aus dem Leib. Am Sporttag durften wir endlich, was sonst immer verboten ist.“

Zwanzigtausend Stunden ist dieses Mädchen in Kindergarten und Schule gegangen, ohne schreien zu dürfen. Endlich kam der Sporttag, an dem Lehrer nicht mehr Lehrer und Schüler nicht Schüler waren. Sie waren vereint und schrien sich für ihr Team „die Seele aus dem Leib“!

Das tut man nicht


Kackschlange

Der fünfjährige Jakob schaute begeistert in die Kloschüssel: „Schau mal! Die Wurst hat einen Kopf und auf der Seite ist ein Auge. Das ist eine Kackschlange. Ich habe eine Kackschlange gemacht!“

Das ist echte Schaffensfreude. Oft habe ich Kinder gehört, die sich so gefreut haben. Schau, was ich kann! Der Mensch erschafft Neues und hinterlässt Spuren: eine Burg in der Sandkiste, Graffiti, frisch gepflanzte Mohrrüben, eine Kackschlange. Neues zu erschaffen macht Freude. Jakob lässt seiner Freude freien Lauf, kommt gar nicht auf die Idee, dass sie stinken könnte oder ekelig wäre. Er hat – noch – ein naives und unkompliziertes Verhältnis zu seinem Körper.

Und das ist wahrlich nicht selbstverständlich. Ein vierjähriges Mädchen geht im Kindergarten aufs Klo. Nachdem es fertig ist, schaut ein Erwachsener in die Kloschüssel und sagt: „Igitt, ist dein Pipi aber ekelig!“ Danach geht das Mädchen im Kindergarten nie wieder aufs Klo. Eine unüberlegte Bemerkung mit Konsequenzen. „Wenn mein Pipi so ekelig ist, dann bin ich es wohl auch“, mag es sich gedacht haben. Das vierjährige Mädchen verteidigt sich und schützt sein Schamgefühl, indem es das Klo des Kindergartens nicht mehr benutzt. Seither sind 31 Jahre vergangen. Dass wir von den Konsequenzen dieser unüberlegten Bemerkung erfahren, verdanken wir der heute 35-jährigen Frau.

Mütter, Väter und Pädagogen müssen ihre Worte mit Bedacht wählen, wenn das fünfjährige Kind stolz von seiner Kackschlange erzählt. Das kann schon richtig schwerfallen. Vor allem, wenn man selbst „gelernt“ hat, Pipi und Kacke als ekelig anzusehen und nicht darüber zu sprechen.

Meine Großmutter sagte noch: „Ich muss dorthin, wo auch der Kaiser zu Fuß hingeht.“


Das brauche ich

Drei Tage hatte er seine Mutter nicht gesehen. Für einen Dreijährigen ist das eine lange Zeit. Als er sie wieder sah, streichelte er unentwegt ihre Brüste. „Das darf ich. Das brauche ich“, sagte er ernst.

Mutters Brust gibt Geborgenheit. „Das darf ich“, sagt der Dreijährige, weil er das nur dann darf, wenn keine Fremden in der Nähe sind. Genau dann, wenn er es am dringendsten braucht, darf er sie nicht anfassen. Das dreijährige Kind wird manchmal klein, schluchzt, nuckelt und streichelt Mutters Brust. Manchmal muss es klein sein dürfen, um wachsen zu können. Sich der Welt zuzuwenden erfordert Mut und es fällt leichter, wenn man sich in den schützenden Schoß der Mutter zurückziehen kann. Der Mut schwindet, wenn Trost nur streng rationiert zur Verfügung steht. Befreiung fällt schwer, wenn man sich nicht jederzeit in schützende Arme fallen lassen kann. Wenn unser Dreijähriger immer wieder erfährt, dass er in der Öffentlichkeit nicht Schutz suchen darf, dann lernt er sich zu schämen und distanziert sich von seinen Bedürfnissen.

Seine Mutter sagt: „Ich mag das nicht, wenn wir nicht alleine sind.“ Damit bringt sie zum Ausdruck, dass es nicht an ihm liegt.


Privat

Vor langer Zeit in einer Krippe. Sobald eines der Kinder seine Mutter sah, wurde es hungrig. Oft setzte sich die Mutter inmitten der Gruppe sofort hin, um ihr Kind zu stillen. Eines Tages legte ihr eine Kindergartenpädagogin nahe, das erst zu Hause zu machen. Stillen sei nämlich ein wenig unappetitlich und jedenfalls Privatsache. Außerdem könne sie schon mit dem Stillen aufhören, das Kind sei nämlich schon acht Monate alt! Eine ältere Kollegin erzählte, dass sie ihr Kind bis ins Alter von zwei Jahren gestillt hätte. Eine Frau in Lappland stillte ihr Kind bis zum siebten Lebensjahr. Der nächste Markt lag 40 Kilometer entfernt und oft gab es ohnehin keine frische Milch. Die Leute aus der Hauptstadt meinten, dass es ein wenig unappetitlich sei, ein so altes Kind zu stillen.

Was passiert, wenn eine Generation Kinder kürzer gestillt wird? Wie viele Umarmungen und Zärtlichkeiten fehlen dieser Generation? Woher soll sie den Mut zur Befreiung finden?


Weg mit den Farben


Es gab eine Zeit, in der Wände dunkel gestrichen wurden und Kommoden einen orangen Anstrich erhielten. Das war genauso modern wie bunte Teppiche und geblümte Tapeten. Kleine Figuren, Souvenirs und anderer Krimskrams füllten die Regale und erinnerten an den letzten Urlaub in den Bergen.

Viele Jahre später hatte ich eine alte Wohnung mit einem großen, dunkelgrünen Wandschrank. Ein Freund riet mir, ihn zu schleifen, die weinrote Kommode wurde weiß getüncht, der Teppich entfernt und der Boden frisch versiegelt. Ein oranger Schrank wurde in den Keller verfrachtet. Eines Tages wurde auch der Kindergarten von der Modernisierungswelle getroffen. Als die Wand von ihren farbenprächtigen Märchenfiguren hätte befreit werden sollen, wehrten sich die Kinder. Sie durften ihre Wand behalten.

Keine bunten Farben! Nicht laut schreien! Reg dich ab, bleib ruhig, entspann dich, reden – nicht hauen! Das ist es, was Kinder heutzutage häufig hören. Die Freude an der Sinnlichkeit ist beinahe schon vulgär. Bleicher Minimalismus ist in!

Kinder freuen sich auf die Zeiten, in denen Farben und Märchen wiederkehren und nicht nur dem mit Weichmachern verseuchten Spielzeug vorbehalten bleiben. Vielleicht können Kinder in nicht allzu ferner Zukunft den Figuren auf der Wand beim Einschlafen wieder Leben einhauchen und von Hirtinnen und Schornsteinfegern träumen.


Waldspaziergang

An einem lauen Novembertag wanderte eine Familie durch den Wald. Plötzlich riss der Vater seine dreijährige Tochter, die neben ihrem Bruder saß, aus dem Kinderwagen heraus: „Es reicht! Wenn du Anton nicht in Ruhe lassen kannst, musst du auf deinen eigenen Beinen gehen!“
Dieser Ausbruch verschlimmerte die Situation nur. Das Mädchen weinte und weigerte sich, nur einen einzigen Schritt zu gehen. Der kleine Bruder weinte auch, weshalb die Mutter wütend wurde. Der Vater schimpfte ständig mit seiner Tochter. Diese reagierte mit wütender Verzweiflung.

Nach einer arbeitsreichen Woche hätte es ein schöner Sonntag für die ganze Familie werden sollen. Und dann zerstören die Kinder die Idylle durch Streitereien und lautes Geschluchze. Es ist nicht verwunderlich, wenn die Eltern wütend werden und schimpfen. Aber, sind nicht die Eltern für die Stimmung verantwortlich? Hätten sie nicht anders agieren können? Was wäre passiert, wenn der Vater mit seiner großen Tochter gespielt hätte, statt sie in den engen Kinderwagen zu stopfen, als sie nicht weitergehen wollte? Was wäre passiert, wenn die Eltern die Kinder gefragt hätten, ob sie Tannenzapfen sammeln wollen, statt mit ihnen spazieren zu gehen? Oder wenn Mutter und Vater eine Höhle gebaut hätten? Hätten sich die Kinder nicht über alle Maßen gefreut? Welch schöner Sonntag hätte das werden können! Die bereits leicht übergewichtige Tochter hätte ebenso etwas davon gehabt wie ihr einjähriger Bruder, der viel zu viel im Kinderwagen sitzt oder herumgetragen wird, und somit die Welt nur anschauen kann, statt in ihr zu spielen. Auch für die Eltern wäre es schön gewesen. Sie haben ohnehin nicht viel Zeit für Zärtlichkeiten, Spiel und Herumtoben.

Statt eines schönen Sonntags im Freien erlebten sie einen nur halb so geglückten Schimpftag.


Fragen stellen, betteln
und Willen durchsetzen


Im Supermarkt

Louis: „Ich will ein ...“    
Mutter: „Nein.“    
Louis weint.    
Mutter: „Hör auf zu weinen!“

Louis hat viele Wünsche im Supermarkt. Seine Mutter muss oft Nein sagen. Dann weint Louis. Vielleicht glaubt Louis‘ Mutter, dass er sich durch sein Schluchzen durchsetzen will. Sie ist verärgert und sagt mit ihrer Schimpfstimme: „Hör auf zu weinen!“ Er weint noch mehr.

Würde sie sein Schluchzen als natürliche Reaktion auf den nicht erfüllten Wunsch sehen, ihm vielleicht zeigen, dass sie seine Traurigkeit verstehen kann, dann wäre die Enttäuschung vielleicht schnell verflogen. Vor allem dann, wenn Louis wüsste, dass seine Mutter ihm gerne seinen Willen lässt und seine Wünsche erfüllt, sooft sie kann.

Wie oft wird gescholten?
•    Mütter von Kleinkindern versuchen alle 3 bis 9 Minuten das Verhalten
ihrer Kinder zu korrigieren. Im Supermarkt rügen oder bestrafen sie
ihre Kinder mehr als ein Mal pro Minute. Das wissen wir von Unter­su­
chungen in Amerika in den 1990ern. 4
•    In Dänemark gaben 86 Prozent von 6.000 Müttern an, dass sie in der
ver­­­­gangenen Woche ihre dreieinhalbjährigen Kinder gescholten hät-
ten. 5

 

Das, was ICH will

Ein Vater sprach mit seinem fünfjährigen Sohn:
„Was würdest du tun, wenn du selbst bestimmen dürftest?“
„Dann würde ich tun, was ICH will.“

Etwas später:
„Was ist, wenn die Erwachsenen bestimmen?“
„Dann würde ich tun, was die Erwachsenen sagen – es sind ja auch die Erwachsenen, die bestimmen.“


Im Satz „Dann würde ich tun, was die Erwachsenen sagen“ kommt die Erfahrung des Kindes zum Ausdruck, dass es meist das tun muss, was die Erwachsenen wollen. Müsste es das nicht, würde es tun, was es selbst will. Der Bub findet nicht, dass er tun kann, was er will. Es sind die Erwach­senen, die bestimmen, und er muss folgen.

Wie ist das zu verstehen? Versuchen Eltern nicht, die Wünsche ihrer Kinder zu berücksichtigen? Doch, die meisten jedenfalls. Aber in vielen Bereichen sind es trotz allem die Eltern, die die Entscheidungen treffen. Sie entscheiden, was es zu essen gibt, wann man schlafen geht, was angezogen wird, wohin man geht und ob die Kinder mitkommen dürfen. Und dann gibt es noch die vielen anderen Erwachsenen im Leben eines Kindes: Kindergartenpädagogen, Lehrer, Betreuer, Hauswarte und Trainer. Sie treffen Entscheidungen in ihrem speziellen Bereich. Nur wo zwischen diesen Bereichen ein wenig Platz bleibt oder wo in den Bereichen ein Raum für Entscheidungsfreiheit geschaffen wird, ist Platz für den Willen der Kinder. In einer Klasse mit 25 Kindern gibt es kaum die Möglichkeit zu tun, was man selbst will. Und wenn ein Kind es trotzdem versucht, wird es schnell „egoistisch“ genannt und die Eltern sollten dafür sorgen, dass ihr Kind lernt, auf andere Rücksicht zu nehmen.


Wenn man sich die ersten 8 bis 9 Stunden des Tages den Regeln von Schule und Hort unterordnen muss, kann es zu viel sein, sich dann auch noch zu Hause anzupassen. Aber der Wille kann gebrochen werden und dann ist daraus ein scheinbar einfaches Kind geworden. Es versucht nicht mehr, die „Grenzen“ der Erwachsenen zu finden. (So beschreiben Erwachsene Kinder, die selbst etwas tun wollen.) Sie suchen nichts mehr, sie schweigen und gehorchen.

Wenn Kinder viele Stunden in Schule und Betreuung sind, dann müssen die Eltern dafür sorgen, dass den Kindern genügend Platz für die Ent­faltung des eigenen Willens gelassen wird.

Jedes Kind will über seinen Mund, seine Arme und Beine selbst bestimmen, genauso wie auch jeder gesunde Erwachsene. Das geht natürlich nicht immer. Wenn das Kind merkt, dass es von seinen Eltern in der Entfaltung des eigenen Willens, wo immer möglich, unterstützt wird, dann fühlt sich das Kind geliebt und wertgeschätzt. Und dann kann es leichter mit den anderen vielen Neins und geschlossenen Türen umgehen.

Hat das Kind dann auch noch Eltern, die sowohl ein Interesse am Willen des Kindes zeigen, als auch wissen, was sie selbst wollen, dann sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass das Kind seinem Willen und Glau­ben durch die Kindheit hindurch treu bleiben kann.

„Wo ein Wille, da ein Weg“, heißt es. Und was ist, wenn kein Wille da ist?

Beim dänischen Philosophen K. E. Løgstrup ist der Wille eine spontane Daseinsäußerung so wie beispielsweise auch der Trieb, einem Menschen in Not zu helfen. 6 Wille braucht somit nicht gelehrt zu werden. Er ist einfach da, kann aber beschädigt werden. Wenn ein Kind nicht gehört wird, fühlt es sich missverstanden. Wenn es nur so behandelt wird wie alle anderen, fühlt es sich übergangen. Wenn ein Kind unter solchen Um­ständen aufwächst, passt es sich entweder total an oder versucht alles, um seinen Willen durchzusetzen. Manche Erwachsene meinen dann, dass sie „Grenzen setzen“ müssten, damit das Kind lernen kann, dass es nicht immer seinen Willen durchsetzen kann. Das scheinbar Grenzen suchende Kind ist aber vielmehr ein Kind, das nicht so gesehen und gehört wird, wie es ist.

Wenn willensschwache Kinder, weil sie keine Probleme machen, übersehen werden und wenn willensstarken Kindern mit „Grenzziehung“ be­geg­net wird, dann verfestigen sich die Probleme und die Kinder verlieren vielleicht sogar ihre Lebenslust.


Der Wille ist „der schönste Baum im Wald“

Asta diskutiert mit einer Freundin, ob nun die Mutter oder ihr Vater strenger sei. „Meine Mutter ist jedenfalls die Allerstrengste!“, ist sich die fünfjährige Asta sicher. „Warum?“ „Sie hört erst dann auf, wenn ich ihr meinen Willen gegeben habe!“
Als Astas Mutter von dieser Aussage erfährt, will sie gleich lernen, Asta ihren Willen zu lassen. Sollte Asta wieder den Eindruck haben, dass sie ihren Willen hergeben muss, darf sie „Du machst es schon wieder!“ sagen.

„Die sagen ständig, dass die Schüler zu wenig lernen, dass unsere Rechtschreibung zu schlecht ist und wir nicht rechnen können. Irgendwie finde ich, dass das ein Blödsinn ist. Was ist, wenn wir alle die Recht­schreibung beherrschen, gut rechnen können, aber keine Persön­lichkeit mehr haben und nicht mehr kritisch sind?“ (Aussage eines 13-Jährigen) 7

Asta und der 13-Jährige sind keine gefügigen Kinder, die mit dem Strom schwimmen. Um sie selbst bleiben zu können, nehmen sie auch Konflikte mit der Schule und den Eltern in Kauf. Sie werden nicht besonders stark unterdrückt und sind eher stärker als der Durchschnitt. Sie wirken vielleicht anstrengender als andere. Der 13-Jährige ging in einen sehr freien Kindergarten. Danach meinten seine Eltern, dass eine Schule mit klaren Grenzen gut für ihn wäre.

Kinder können natürlich nicht immer ihren Willen haben. Es muss auf andere Rücksicht genommen werden und auf manche Rahmenbedingungen haben wir keinen Einfluss. In Schule und Kindergarten kann es schwer sein, seinen Willen durchzusetzen, weil dort so viele Menschen aufeinandertreffen und vieles schon geplant ist und seinen gewohnten Gang geht. Umso wichtiger ist es, dass Astas Mutter die Kritik hört und ihr Verhalten als Mutter ändert. Und dass die Eltern des 13-Jährigen seiner Persönlichkeit, seinen Meinungen und Entscheidungen einen Platz einräumen.

Dem Satz „Immer will er seinen Willen!“ haftet etwas Negatives an. Bezeichnenderweise sagen Erwachsene nicht, dass sie ihren Willen durchsetzen wollen. Stattdessen sprechen sie von einer „Notwendigkeit“ oder einem „Bedürfnis“.

Denken Sie mal an das Gegenteil: Kinder ohne Willen. Kinder, die sich von Mutter oder Schule ohne Widerstand den Willen nehmen lassen. Es ist der Wille, der unserem Leben Richtung und Kraft verleiht. Die Frage ist: Wie können wir mit unseren Kindern so leben, dass sie ihren Willen behalten und stärken?

Es geht jedenfalls nie darum, „den Willen des Kindes zu brechen“ oder – wie es noch vor 100 Jahren üblich war – Kindern die Macht der Eltern mit Schlägen deutlich zu machen. Kinder wissen nur zu gut, wie abhängig sie von ihren Eltern sind. Sie brauchen Unterstützung von ihren Eltern, um zu sich zu stehen und den eigenen Willen durchzusetzen. „Es kann ja nicht immer nach dem Willen des Kindes gehen“, lautet der Einwand. Natürlich nicht! Aber genau deshalb ist es so wichtig, sich nach dem Willen des Kindes zu richten, wenn es ab und zu machbar ist und andere dadurch nicht zu kurz kommen.

Ist es schlimmer, geschlagen oder gescholten zu werden?
  • Die Folgen körperlicher und psychischer Gewalt ähneln einander. Psy­chische Gewalt trifft Kinder genauso hart wie Schläge und hat mindestens genauso langanhaltende Folgen. Körperliche Strafen werden meist mit anderen Sanktionsformen angewandt, weshalb sie nicht als isoliertes Phänomen untersucht werden sollten. Eltern, die ihre Kinder schlagen, haben meist einen sehr lauten Erziehungsstil und im Ver­gleich zu anderen Eltern spielen sie weniger mit ihren Kindern, lesen ihnen weniger vor und sind weniger zärtlich.
  • Kinder werden traurig und weinen, wenn mit ihnen geschimpft wird. Sobald sie weinen, werden sie noch mehr gescholten. Kinder werden grob, wenn sie geschlagen werden. Wenn sie grob werden, werden sie häufiger geschlagen. 8

 

Immer diese Fragerei

„So ist das!“, sagt mein Freund, wenn wir über etwas geredet haben, das wir nur zu gern ändern würden, aber nicht ändern können. Dann beenden wir das Gespräch. Kinder wollen sich aber nicht einfach damit abfinden. Sie wollen wissen, wie es dazu gekommen ist. Und dann geht die Frage-
rei los. Zum Beispiel:

Asbjørn (fast vier Jahre): „Wie kann man wachsen, ohne den Kopf abzunehmen?“
Asbjørn (fast neun Jahre): „In der Erde ist das Feuer. Papa, wie weit unten? So tief wie die Gräber? Wird man verbrannt, wenn man tot ist? Papa, werde ich verbrannt, wenn ich tot bin?“

Jedes Kind kommt ins Fragealter. Sollte ein Kind nicht viele Fragen stellen, ist es an der Zeit, sich selbst zu fragen, wie es dem Kind geht und wie es um die Beziehung zum Kind steht. Jede kindliche Frage ist nämlich ein Vertrauensbeweis. Kinder glauben, dass Eltern alle Fragen beantworten können. In der Schule reicht vielleicht die Zeit nicht oder die Frage passt nicht zum aktuellen Schulstoff. Oder man will seine Unwissenheit nicht vor den Schulkollegen zur Schau stellen. Wen soll man fragen, wenn sich die Eltern davor drücken, die Fragen zu beantworten?

Es ist mir immer schwergefallen, die richtigen Antworten auf die Fragen von Kindern zu finden. Asbjørns Frage zum Wachsen verrät etwas darüber, wie er sich das Verhältnis zwischen Kopf und Körper vorstellt. Ich versuche die Frage mit meinem bescheidenen Wissen über Biologie zu beantworten und Asbjørn kommt der Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ ein Stück näher.

Wenn Kinder Fragen zum Tod stellen, fällt mir die Antwort besonders schwer. Die richtige Antwort kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass man nicht lügen soll, denn sonst verliert man seine Glaubwürdigkeit. Die Wahrheit kann brutal sein. Asbjørns Frage ist gar nicht die Schwierigste. Er hat bereits erkannt, dass alle sterben: Er selbst, seine Mutter, einfach alle. Diese Erkenntnis hatte er bereits als Vierjähriger – aber das ist eine andere Geschichte.

Es kann unheimlich schwer sein, die Fragen von Kindern zu beantworten. Und dann geht die Fragerei immer beim Essen, Schlafengehen oder Kochen los. Ärgerlich.

Aber das Kind ist damit beschäftigt, diese unbegreifliche Welt zu verstehen und sich selbst kennenzulernen. „Mama, bin ich ich? Wieso hast du gesagt, dass Großmutter ‚zu sich gekommen‘ ist? Wo war sie davor?“


Wenn Schweigen Gold ist

Pernilles Mutter arbeitete im Garten. Neulich regnete es und die Schnecken aßen genüsslich die saftigen Blätter. Die Buben organisierten ein Schneckenwettrennen. Pernille (drei) war ganz fasziniert von den Schnecken. Als die Buben ein Hindernis für die Schnecken bauten, ging Pernille ganz nah ran. Da kam etwas aus dem Schneckenhaus raus und verschwand gleich wieder. Das war lustig. Kam raus, verschwand wieder. Sie hob einen Fuß über die Schnecken und sobald eine Schnecke aus dem Haus schaute, trat sie fest drauf. Ein flachgetretener Brei aus Schale und Körper der Schnecke lag am Boden. Die Buben drehten sich um. Pernille lächelte vor Freude und Stolz: „Schaut, was ich gemacht habe!“ Die Buben erklärten Pernille: „Du darfst nicht auf Schnecken treten, sonst sterben sie.“ Pernille schaute die Buben mit großen, verwunderten Blicken an. Die Buben warfen Pernilles Mutter einen Blick zu. Sie hatte alles gesehen und gehört, wartete aber ab, was geschehen würde.

... und sagte nichts. Die Buben hatten ohnehin gesagt, was zu sagen war. Dem brauchte sie nichts hinzuzufügen. Wenn es die Buben sagen, kommt es ganz anders an. Wieso ist das so? Vielleicht steckt die Antwort darauf in einem Gespräch, das ich mit der sechsjährigen Clara geführt
habe:

„... manchmal, wenn die Großen mit einem schimpfen – also nicht die Erwachsenen – dann kann man in seinem Kopf etwas lernen.“
„Dann kann man im Kopf etwas lernen?“
„Ja, dass jemand schimpft, der nicht so groß ist.“
„Was kann man daraus lernen?“
„Ich kann es besser verstehen, wenn ... ääähm ... zum Beispiel meine große Schwester mit mir schimpft.“

Ein paar Jahre später sprach ich mit drei anderen Sechsjährigen. Sie hatten nicht den Eindruck, dass sie im Kindergarten etwas lernen würden. Nur manchmal kämen ältere Kinder in den Kindergarten, von denen könnte man dann zum Beispiel lernen, wie man Katzen pflegt. Kein Erwachsener, weder Eltern noch Kindergartenpädagogen, wurden erwähnt, wenn es ums Lernen ging. Anders meinte, dass er gar nichts lernen würde. „Warum nicht?“ „Weil ich keine große Schwester habe“, stellte er fest.

Sogar durch Schimpfen kann man also lernen, wenn es von jemandem kommt, der einem nahesteht, nicht allzu groß und nicht zu erwachsen ist. Vielleicht wird es gar nicht als Schimpfen empfunden, wenn so jemand sagt, dass man Schnecken nicht zertreten darf, weil sie dann nie wieder leben? Vielleicht wirkt Bildung dann am besten, wenn sie von jemandem kommt, der nicht zu viel Macht hat? Pernille bekommt keine Angst. Sie wundert sich und lauscht interessiert.

Beobachten Sie, wie Kinder voneinander lernen, wie sie sich     
gegenseitig erziehen. Und bleiben Sie dabei im Hintergrund.


 


Die Mondbrücke – Gedankenexperimente

Benjamin: „Es stürmt, es stürmt!“
Mutter: „Stell dir vor, der Wind könnte die Erde weiter ins Weltall blasen!“
Benjamin: „Ganz bis zum Mond! Dann könnte man zwischen dem runden und dem dünnen Mond eine Brücke bauen. Dann könntest du auf der einen Seite stehen und ich mit Papa auf der anderen und wir könnten einander besuchen!“

Erwachsene müssen oft „vernünftig“ sein: weil wir den Bus erreichen müssen, die Regensachen mitnehmen oder in die Arbeit müssen. Kinder sind unvernünftig, leichtsinnig und gefühlsbetont.

Erwachsene können so realistisch und vernünftig werden, dass Kinder gar nicht mehr die Träume und Fantasien der Erwachsenen erkennen können. Dann können Kinder Erwachsene nicht erreichen.

Als sie an jenem Morgen im August ins Freie gingen, freute sich der Fünfjährige über den Wind. Vielleicht war seine Freude der Ursprung für das Gedankenexperiment der Mutter: Stell dir vor, wir würden alle ins Weltall hinausgeblasen werden. Benjamin greift den Gedanken gleich auf und befindet sich schon oben bei den beiden Monden, die er gut kennt: Und zwischen dem runden und dem dünnen Mond baut er eine Brücke. Eine Brücke, die verbindet. Vielleicht die Geschlechter, vielleicht die moder­ne, gespaltene Familie?

Es war die Mutter, die eine Brücke in die magische Welt ihres Sohnes hineinbaute und Lust an Gedankenexperimenten zeigte. Es stürmte und gemeinsam erforschten sie den Sinn des Lebens.