ENTWICKLUNGSMATERIALIEN in der Schule des Kindes von Dr. Maria Montessori

 

Erstmals in deutscher Sprache ist der zweite Teil der „Schule des Kindes“ erschienen!

 

 

 

 

Maria Montessori

 

Entwicklungsmaterialien

IN DER SCHULE DES KINDES

 

Übersetzung aus dem Italienischen von
Mag. Karin Pellegrini


Renate Götz Verlag

Mit freundlicher Unterstützung von Saskia Haspel und Christiane Salvenmoser,
Montessori-Zentrum Wien, und Hermi Bader.
Impressum
Titel der italienischen Originalausgabe:
„L’autoeducazione nelle scuole elementari“,
Copyright © The Montessori-Pierson Estates 1916
2. Auflage März 2011
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe:
© Renate Götz Verlag 2003
A-2731 Dörfles, Römerweg 6
e-mail: info@rgverlag.com
www.rgverlag.com
Digitale Fotos, Bildbearbeitung, Layout und Gesamtgestaltung by
outLINE|grafik . Eva Denk . www.outlinegrafik.at
Produktion: Druckerei Paul Gerin, Wolkersdorf . www.gerin.co.at
Printed in Austria
ISBN 978-3-9501011-7-1

 

Inhalt


Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Anmerkung der Übersetzerin. . . . . . . . . . . . . . . 16

i. Grammatik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

I . Von der mechanischen zur
intellektuellen Entwicklung der Sprache
. . . . . . . . 21

II . Das Wortstudium. . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Vor- und Nachsilben.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Tafeln der Suffixe (Nachsilben) . . . . . . . . . . . . 26
Tafel der Präfixe (Vorsilben) . . . . . . . . . . . . . 29
Zusammengesetzte Nomina . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Wortfamilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

III . Artikel und Nomen . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Einzahl und Mehrzahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Männlich und Weiblich . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

IV . Darbietungen - Aufforderungen. . . . . . . . . . . 40
Befehle zu den Nomina . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

V . Adjektive (Eigenschaftswörter). . . . . . . . . . . 46
Analysen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Beschreibende Eigenschaftswörter. . . . . . . . . . . . 46
Übereinstimmung zwischen Nomen und Adjektiv . . . . . . 51
Beschreibende Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Mengenangebende Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . 54
Ordnungsangebende Adjektive . . . . . . . . . . . . . . 54
Demonstrativpronomen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Besitzanzeigende Fürwörter. . . . . . . . . . . . . . . 55

VI . Verben (Zeitwörter). . . . . . . . . . . . . . . . 57
Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Wortverschiebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Darbietungen und Anweisungen zum Verb . . . . . . . . . 59
Darbietungen mit Experimenten . . . . . . . . . . . . . 62

VII . Präpositionen (Vorwörter) . . . . . . . . . . . . 63
Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Wortverschiebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Darbietungen und Aufforderungen zur Präposition . . . . 65

VIII . Adverbien (Umstandswörter) . . . . . . . . . . . 68
Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Wortverschiebungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Darbietungen und Aufforderungen zum Adverb  . . . . . . 71
Bewegungsexplosion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

IX . Pronomen (Fürwörter) . . . . . . . . . . . . . . . 74
Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Wortverschiebungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Darbietungen und Aufforderungen zum Pronomen  . . . . . 76
Übereinstimmung zwischen Pronomen und Verb  . . . . . . 78
Verbkonjugation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

X . Konjunktionen (Bindewörter) . . . . . . . . . . . . 81
Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Wortverschiebungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Darbietungen und Aufforderungen zu den Konjunktionen  . 82

XI . Interjektionen (Ausrufungswörter)  . . . . . . . . 84
Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
 

XII . Satzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
   Einfache Sätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
      Veränderung der Reihenfolge der verschied.

        Bestandteile des Satzes . . . . . . . . . . . . 91
   Zusammengesetzte und komplexe Sätze  . . . . . . . . 94
      Satzstellung bei Satzgefügen . . . . . . . . . . 101
      Gleichordnende und unterordnende Bindewörter . . 106
      Zeitenfolge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

XIII . Die Satzzeichensetzung  . . . . . . . . . . . . 110

XIV . Einteilung und Zusammenfassung der Wortarten . . 113
   Einteilung der Worte aufgrund ihrer Bildung . . . . 113
   Einteilung der Wortarten aufgrund

      ihrer Veränderung durch:
      Geschlecht, Zahl, Person, Modus und Zeit . . . . 114
Einteilung der Wortarten nach ihrer Verwendung . . . . 115

ii. Lesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

I . Ausdruck und Interpretation. . . . . . . . . . . . 121
   Das mechanische Lesen . . . . . . . . . . . . . . . 121
   Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
   Experimenteller Teil - Das laute Lesen. . . . . . . 125
   Das interpretierende Lesen. . . . . . . . . . . . . 127
   Das Zuhören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
   Die bevorzugten Bücher. . . . . . . . . . . . . . . 137

iii. Arithmetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

I . Rechenoperationen. . . . . . . . . . . . . . . . . 143
   Von 1 bis 10. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
   Zehner, Hunderter, Tausender. . . . . . . . . . . . 144
   Die Rechenrahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

II . Das kleine Multiplikationsbrett . . . . . . . . . 150

III . Division . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

IV . Mehrstellige Rechenoperationen. . . . . . . . . . 156
   Addition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
   Subtraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
   Multiplikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
   Anordnung der Multiplikation auf dem Papier . . . . 161
   Mehrstellige Division . . . . . . . . . . . . . . . 163

V . Übungen zu den Zahlen. . . . . . . . . . . . . . . 165
   Vielfache, Primzahlen, Teilbarkeit der Zahlen . . . 165

VI . Quadrieren und Kubieren von Zahlen. . . . . . . . 176

iv. Geometrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

I . Ebene Geometrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

II . Beschreibung der Entwicklungsmaterialien
     für die Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . 184
   Erste Serie: die geteilten Quadrate . . . . . . . . 184
   Zweite Serie von Einsatzrahmen:
     die Bruchrechenkreise . . . . . . . . . . . . . . 186
     Umwandeln der Brüche in Dezimalbrüche . . . . . . 190
   Dritte Serie: flächeninhaltsgleiche Figuren . . . . 192
     Einige Grundsätze zur Flächeninhaltsgleichheit. . 199
   Vierte Serie der geometrischen Einsätze:
     Teilung des Dreiecks  . . . . . . . . . . . . . . 206
   Material der eingeschriebenen und konzentrischen
   Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

III . Dreidimensionale Geometrie . . . . . . . . . . . 209
   Geometrische Körper . . . . . . . . . . . . . . . . 209
   Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
     Die Potenzen der Zahlen . . . . . . . . . . . . . 212
     Der Kubus eines Binoms. . . . . . . . . . . . . . 212
     Gewichte und Maße . . . . . . . . . . . . . . . . 212

v. Zeichnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

I . Zeichnen geometrischer Figuren . . . . . . . . . . 217
   Künstlerische Kompositionen mit den Einsatzrahmen . 222

II . Freies Zeichnen vom Vorbild der Natur . . . . . . 226

vi. Musik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

I . Die Tonleiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

II . Lesen und Schreiben der Noten . . . . . . . . . . 239
   Die beiden Notenschlüssel - der Violin- und
   der Bassschlüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

III . Die Dur-Tonleitern . . . . . . . . . . . . . . . 245

IV . Übungen zum Rhythmus. . . . . . . . . . . . . . . 251
   Der Gesang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
   Musikalische Beispiele für rhythmische Übungen  . . 264

V . Musik zum Anhören. . . . . . . . . . . . . . . . . 274
   A) Erzählungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
   B) Beschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
   C) Leidenschaftliche Gefühle. . . . . . . . . . . . 275
   D) Lieder und regionale Volkstänze. . . . . . . . . 275

vii. Verslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

I . Das Studium der Verslehre in den Grundschulen. . . 279

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

 

Vorwort

[Vorwort von Mario Montessori aus dem Jahr 1965 zur italienischen Neuauflage des Buches „L’autoeducazione nelle scuole elementari“ („Schule des Kindes“)].

Alle, die sich mit der Geschichte der Pädagogik beschäftigen wissen, welchen Eindruck die beiden Bücher von Frau Dr. Maria Montessori Die Entdeckung des Kindes und Die Schule des Kindes auf die traditionellen Erziehungsmethoden hinterlassen haben.

Das zweite dieser Bücher, das lange Zeit vergriffen war, ist dieser Jahre wieder in historischer Ausgabe erschienen. Seine Sprache spiegelt die Zeit, in der es erschienen ist, und zwar 1916, wider. Die darin verwendete Terminologie ist daher notgedrungenerweise auch aus jener Zeit. Der Positivismus hinterließ auch seine Spuren in der Wissenschaft.

Ich schicke mich nun an, die Einleitung für dieses Buch mit einer gewissen Ehrfurcht vor der Autorin zu schreiben und frage mich, ob es auch anderen im Lauf ihres Lebens wie ihr gelungen wäre, sich selbst treu zu bleiben.

Im Buch Das kreative Kind - ein Buch, das sie später schrieb - erzählt sie, wie eine Gruppe von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren im Lauf ihres Lebens reift. Es waren von der Gesellschaft vernachlässigte Kinder, gewalttätig, zerstörerisch, schmutzig und kleine Vandalen. Sie entstammten dem Abschaum der Armen Roms.

Frau Dr. Montessori, die Psychologin war, schuf eine für die Kinder angepasste Umgebung mit vielen verschiedenen Anregungen, um sie zu beschäftigen. Sie gab ihnen genaue Anweisungen dazu und ließ ihnen die Freiheit, sich ihre Beschäftigungen selbst auszuwählen und auch die Zeit, die sie dafür benötigten. Das Einzige, das nicht erlaubt war, war die anderen zu verletzen oder zu beschimpfen.

Nach einigen Monaten veränderte sich das Verhalten der Kinder augenscheinlich. Frau Dr. Montessori selbst bemerkte das kaum. „Ich brauchte Zeit, um mich selbst davon zu überzeugen, mir die Veränderung nicht bloß einzubilden." - schrieb sie in vorher zitiertem Buch. „Nach jeder weiteren neuen Erfahrung sagte ich mir selbst, dass ich es noch nicht glauben will, dass ich es erst beim nächsten Mal tun werde. Auf diese Art blieb ich lange ungläubig und gleichzeitig tief bewegt und bangend.“

Schließlich musste sie sich der Realität fügen.

„Eines Tages", berichtet sie auf der selben Seite, „nahm ich mein Herz in die Hände, als ob ich mir Mut machen wollte und stellte mich vor die Kinder und fragte mich selbst dabei: Wer seid ihr? Habe ich jene Kinder gefunden, die von Christus beschützt wurden und Gottes Worte im Ohr hatten? Ich werde euch folgen, um mit euch ins göttliche Reich zu gelangen."

Sie war auch immer für weitere Überraschungen bereit. Mit der Absicht, die Kinder zum Lesen zu bringen, gab sie ihnen einige Buchstaben des Alphabets und sie lehrte dabei den Klang und nicht den Namen der Buchstaben. Eines Tages, einige Wochen später, begann ein Kind plötzlich mit großer Begeisterung zu schreiben. Danach noch eines ... und noch eines: die Kinder waren erst viereinhalb Jahre alt! Das war unverständlich und unmöglich!

Ist es nicht überraschend, dass Maria Montessori die medizinische Karriere, die Professur an der Universität und den Vorsitz der feministischen Bewegung aufgab, um mit diesen Kindern zu arbeiten? Sie gaben ihr die Vision einer neuen Welt. Müssen wir uns wundern, dass sie sich gezwungen sah, ihrer Vision zu folgen und weiter die Voraussetzungen zu verbessern, die eine spontane Veränderung der Kinder ermöglichen?

Sie tauchte in das Geheimnis des Kindes ein und nichts konnte sie von ihrem Weg abbringen - und es passierten noch viele Dinge.

Ihre beiden Bücher - Die Entdeckung des Kindes und dieses - wurden wie eine neue Entdeckung begrüßt. Bald darauf entstand aber ein Streitgespräch, das immer noch andauert: die religiösen Menschen bekämpften sie wegen ihres Positivismus; die Positivisten verdammten sie, weil sie religiöse Elemente in ihrer Sprache benutzte; die Wissenschaftler machten sie lächerlich mangels ernsthafter Objektivität und demagogischer Ausdrücke; die Pädagogen beschuldigten sie, größenwahnsinnig zu sein, weil sie sich weigerte, andere Erziehungstheorien zu akzeptieren ..., und auch, weil sie kulturelle Programme für Kinder einführte, die noch unreif dafür erschienen ..., weil sie freiheitseinschränkend sei und anderes mehr.

Dann mischten sich noch die Politiker ein. Die Diktatur in vielen Ländern ließ die Montessori-Einrichtungen schließen und verbannte Frau Dr. Montessori wegen ihrer Theorien, so musste sie sich freiwillig ins Exil begeben. Sie könnte als die am wenigsten verstandene Pädagogin aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Alles und alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben, um ihre Arbeit zu schmälern und zu zerstören. Aber sie war sich ihrer Vision sicher und die Kinder beständig in ihren Entdeckungen. Nichts konnte stark genug sein, um die Wahrheit zu vertuschen. Sie reiste von einem Land zum anderen und kehrte reich und mit neuen Kräften in das Land zurück, aus dem sie vertrieben wurde.

Auch diese Tatsache beweist den Wert des Buches, das eines der beiden ist, die ihr große Anfeindung und Unverständnis einbrachten. Wenn wir es lesen, können wir den „Apostel des Kindes" (wie sie oft genannt wurde) gegen die Gesellschaft wettern hören. Von Beginn an wurde ihre Tätigkeit zur Kampagne zu Gunsten der Kinder, so wie einst der Prophet der Antike gegen die Einwohner von Sodom und Gomorrha wetterte. Maria Montessori brachte die erschrecken-den Bedingungen zur  Sprache, in denen die Kinder zu der Zeit, in der sie das Buch geschrieben hat, lebten. Einige ihrer Ausdrücke mögen übertrieben scheinen, vergessen wir aber nicht, dass sie provozieren musste, da sie einer festen Mauer von jahrtausendealten Vorurteilen und Unverständnis gegenüberstand. Ihr Zweck rechtfertigt aber die Verwendung jener Ausdrücke, die freilich nicht im Gebrauch eines theoretischen, wissenschaftlichen Arbeitsfeldes waren; sie sind eine klare Kundgebung, dienen nur dem vorher genannten Zweck und sind frei jeder apodiktischen Tendenz.

All das wird deutlich in ihrem Wettern - unter anderem - gegen die kindliche Phantasie und gegen ihre allgemeine Bewertung der pädagogischen und psychologischen Richtungen jener Zeit. Es ist nicht zu leugnen, dass ihre Kritiker auch übertrieben, indem sie alle Ausdrücke über einen Kamm scherten, ohne zu unterscheiden was normal und abnormal ist. Außerdem vermischten sie die konstruktiven Aspekte der Phantasie mit dem, was schlicht der Zerstreuung dient.

Wenn es den Anschein hatte, dass Frau Dr. Montessori Spiel und Phantasie missachtete und sich deren wahrer Werte nicht bewusst wäre, so ist das nicht der Fall - ihre nachfolgenden Werke zeigen deutlich ihre Wertschätzung darüber. Aber zu dieser Zeit waren eben Phantasie und Spiel verknüpft mit der natürlichen Leichtgläubigkeit der Kinder und waren somit Waffen in den Händen der Erwachsenen, die sie dazu benutzten um „wohlerzogene" Kinder zu bekommen: das heißt solche, die sie nicht belästigten.

„Geh und spiel", war der häufigste Ausspruch aus den Mündern jener, die nicht von den Kindern gestört werden wollten. Sie benutzten Geschichten von Feen nicht nur, um den Kindern eine Freude zu bereiten sondern auch, um Gehorsam zu erhalten durch Drohungen wie: das Ungeheuer würde kommen und die Kinder fressen oder die gute Fee ungehalten sein und nicht die versprochenen Geschenke bringen. Wenn man mit den Kindern ein Spiel spielte, bei dem sie ihre Vorstellungskraft brauchten, dann war oft ihre Freude durch erlittene seelische Verletzungen getrübt. Bezeichnend dafür ist auch, dass die Kinder der ersten Montessori-Schule die Spielsachen stehen ließen um sich mit dem, das als „Arbeit" betrachtet wurde, zu beschäftigen.

Glücklicherweise haben sich die Zeiten geändert und Phantasie ist nicht mehr notwendig, um Kinder zufrieden zu stellen. Berührend ist die Geschichte, die im Buch Das kreative Kind erzählt wird. Eine Mutter konnte ihrem Kind kein Fleisch geben und schnitt so das Brot auseinander - ein Teil vom Brot war nun das Fleisch. Das Kind war glücklich darüber und stellte sich vor, nun auch ein Stück Fleisch zu haben. Es war ihm natürlich klar, dass es nur Brot hatte.

Frau Dr. Montessori hatte natürlich nicht die Absicht, ihre philosophischen Visionen der Gesellschaft aufzuzwingen und alle anderen zu schmälern. Ihr Ziel war, wie ich schon vorher erwähnte, wachzurütteln, damit die Bedürfnisse der Kinder besser wahrgenommen werden.

Frau Dr. Montessori wünschte nie, eine Wissenschaftstheoretikerin zu sein und war es auch nie. Ihr Ansatz war der empirische. Sie hatte nie die Absicht, ein psychologisches, pädagogisches oder philosophisches System zu konstruieren.

Sie wollte nur eine Orientierung geben. Ihre Direktiven wurden in allen Schichten der Gesellschaft, überall auf der Welt ausprobiert und hatten das Ziel, bei der Persönlichkeitsentwicklung behilflich zu sein.

Sie konzentrierte sich auf Phänomene und Fakten, die sie und ihre Assistentinnen während der Arbeit mit den Kindern beobachteten und erlebten. Sie versuchte dabei, das Wesentliche zu erfassen, um daraus wieder eine essenzielle Vision zu erarbeiten. Um all das zu veranschaulichen und zu erklären, bediente sie sich dabei der wissenschaftlichen Terminologie ihrer Zeit. Deswegen proklamierten gewisse Richtungen der pädagogischen Psychologie, dass das, was Frau Dr. Montessori behauptet, falsch sei. Das ist genauso logisch wie zu sagen, dass es falsch wäre, dass Kinder auf die Welt kommen, weil K. F. Wolff mit seiner „Theoria generationis" die Theorien der Animalkulisten und Ovulisten [Anmerkung der Herausgeberin: Diese Begriffe stammen aus der Embryonenforschung. Die Anhänger der Präformationstheorie, einer im 18. Jahrhundert vertretenen Entwicklungstheorie, nahmen an, dass der gesamte Organismus im Spermium (Animalkulisten) bzw. in der Eizelle (Ovulisten) vorgebildet sei.] zunichte machte. Die Theorien können verrissen werden, Tatsachen bleiben aber Tatsachen und diejenigen, die Frau Dr. Montessori beschrieb, wiederholen sich heute noch, auch wenn andere Theorien als richtig anerkannt werden. Sie würde sich natürlich auch auf die heute gültigen Theorien beziehen, d.h. nicht, dass ihre Theorien jetzt in Mode sein müssten. Hat sie nun den letzten Ton auf dem Gebiet der Erziehung angegeben? Sie wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, dass es so sein könnte.

Wenn Philosophen und Pädagogen sie beschuldigten, dogmatisch zu sein und zu glauben, nur sie sei im Recht und die anderen im Unrecht, dann nur deswegen, weil sie nicht verstanden, dass Frau Dr. Montessori schon den Weg einer neuen Erziehungsrichtung angab. Sie verstand, dass die neue Erziehungswissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte und sich in der Zukunft noch weiter entwickeln würde. Das kann man auch ihren nachfolgenden Büchern entnehmen.

„Im Potential eines Kindes steckt eine Energie, die bis jetzt noch nicht beachtet wurde. Was aber ihre Nutzung und ihr Bewusstsein darüber betrifft, befinden wir uns noch im Stadium des Galvani. Er zeigte auf, dass der Reflex der toten Froschbeine auf unbekannte Energie zurückzuführen ist. So entstand das Interesse für die Elektrizität, woraus sich in weiterer Folge die Atomwissenschaft entwickelte."

Das Zeitalter des Atoms gab Frau Dr. Montessori Recht. Um mit dem Fortschritt mitzuhalten, ist es erforderlich, dass die Menschheit immer mehr lernt - und das immer schneller. Es besteht die Gefahr, dass sie von den zerstörerischen Kräften, die von ihr selbst entwickelt wurden, vernichtet wird. Während die toleranteren und ausgeglicheneren Menschen davor warnen, steigt die Jugendkriminalität, erhöhen sich die psychischen Krankheiten, die schon die Hälfte der Bevölkerung betreffen, steigt auch immer mehr die Anzahl der analphabetischen Studenten (vor allem in den englischsprachigen Ländern).

In diesem Dilemma rückt wieder mehr das Kind in den Vordergrund, jenes, das schon Frau Dr. Montessori entdeckt hatte: das Kind, das seinen eigenen Weg zur geistigen Gesundung gefunden hatte, das spontan und mit Freude erfüllt schon in jungen Jahren zu lernen begonnen hatte. Die neuen Forschungen kamen zu den selben Ergebnissen wie Frau Dr. Montessori schon vor 50
Jahren.

Seit 1916, seitdem dieses Buch zum ersten Mal erschienen ist, hat es im Schulwesen schon bedeutende Entwicklungen gegeben. Das heißt, mit dem, was in diesem Buch beschrieben wird, wurde nur der Eckstein eines majestätischen Gebäudes gelegt. Unglücklicherweise wurde nichts von diesem Fortschritt bis heute veröffentlicht. Es wird nur in den jährlich abgehaltenen Kursen des Internationalen Montessori-Zentrums in Bergamo verbreitet. Es bleibt zu hoffen, dass es in naher Zukunft in einer Reihe von Büchern dem Publikum zugänglich gemacht werden wird.

Mario M. Montessori
Amsterdam 1965

Anmerkung der Übersetzerin

Als langjährige Bewunderin und Verehrerin Maria Montessoris fühlte ich mich sehr geehrt und erfreut, als die Verlegerin dieses Buches, Frau Renate Götz, vor einigen Jahren an mich mit der Frage und der Bitte herangetreten ist, ob ich denn wohl vorliegendes Buch aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzen möchte. Ich durfte durch diese Arbeit wieder ein Stück mehr mit dieser großen Pädagogin vertraut werden und bin dafür sehr dankbar.

Wenn man bedenkt, dass die erste Ausgabe dieses Buches (natürlich in italienischer Sprache) schon 1916 erschienen ist, dann kann es sein, dass so mancher Leser von den fortschrittlichen Ansichten und der Einstellung dem Kind gegenüber, die Frau Dr. Maria Montessori vertrat, überrascht ist. Es wird auch immer wieder klar ersichtlich, dass es sich dabei um eine ganzheitliche Pädagogik handelt, bei der das Kind absolut im Mittelpunkt steht.

Das vorliegende Buch ist als Übersetzung und nicht als Anwendung der Montessori-Pädagogik für die deutsche Sprache zu verstehen. Das bezieht sich vor allem auf den ersten Teil. Es finden sich immer wieder auch deutsche Beispiele nach den übersetzten italienischen Übungen. Diese sind aber bei weitem nicht als komplett zu betrachten, sondern nur als mögliche Variante. Es gibt einige deutliche Unterschiede in der Grammatik der beiden Sprachen, auf diese wird genauer in den betreffenden Kapiteln eingegangen. Die Reihenfolge und Bezeichnungen der italienischen Kategorien bleiben dabei aber erhalten. Im Deutschen gibt es zum Beispiel eine Wortart mehr als im Italienischen, das
Zahlwort (Numerale), im Italienischen gehört es zur Gruppe der Adjektive (Eigenschaftswörter). Es wird daher auch kein eigener Grammatikkasten zu dieser Wortart beschrieben und diese Wortart fehlt dann auch bei den darauffolgenden Grammatikkästen. Ich möchte hier auch gleich die verschiedenen Farbangaben für die Wortarten erwähnen. Bei einigen Wortarten ist in Klammer noch eine zweite Farbe angegeben - die erstgenannten verstehen sich als die von Maria Montessori angegebenen Originalfarben. Die in Klammer angegebenen hingegen werden sowohl von einigen Ausbildern der Montessori-Pädagogik als auch von Materialherstellern für ihr dazu erzeugtes Material verwendet.

Was den Wortschatz betrifft, der in so manchen Übungssätzen verwendet wird, würde ich ihn nicht unbedingt als aktuell und direkt umsetzbar in der heutigen Zeit bezeichnen. Sprache ist etwas sehr Lebendiges und wir dürfen ihr ruhig zugestehen, dass sie sich im Lauf der Zeit auch verändert, das ist ein ganz natürlicher Prozess. Die Gedichte, die für die Satzanalyse verwendet werden, sind als Übersetzung der italienischen angegeben und enthalten daher den Reim nicht, der im italienischen Original aber durchaus vorhanden ist. Das bezieht sich auch auf den Teil VII des Buches, die Metrik (Verslehre) - es soll hiermit nur die Methode vorgestellt werden und ist daher keine Übertragung auf die deutsche Sprache.

Einen Hinweis möchte ich auch noch zum Mathematikteil des Buches geben. Bei den Farben zum bunten Perlenmaterial im Teil III, der Arithmetik, gibt es ebenso verschiedene Farbangaben, die ersteren sind die von Maria Montessori angegebenen Originalfarben, die von einem italienischen Materialhersteller auch noch verwendet werden. Bei den Farbangaben in Klammer handelt es sich um die aktuell verwendeten Farben der meisten Materialhersteller.

Die Bilder in diesem Buch zeigen in deutschsprachigen Ländern aktuell verwendete Materialien und unterscheiden sich, wie schon oben erwähnt, in einigen Merkmalen von den italienischen.

Maria Montessori verwendet eine sehr bildhafte Sprache und liebt Vergleiche, was für den deutschen Sprachraum eher ungewöhnlich ist. Sie betont damit auch immer wieder die Wichtigkeit der motorischen Entwicklung als Voraussetzung für die geistige Entwicklung.

Liebe LeserInnen, es wird Ihnen auffallen, dass meistens von weiblichen Lehrpersonen gesprochen wird und somit auch nur diese direkt angesprochen werden. Ich habe mich dabei ausschließlich an das Original gehalten.

Karin Pellegrini

 

i GRAMMATIK

i. Von der mechanischen zur intellektuellen Entwicklung der Sprache

Bereits im „Kinderhaus“ entwickelten die Kinder die Fähigkeit, Wörter und auch Sätze zu schreiben; außerdem lasen sie Kärtchen, auf denen Tätigkeiten beschrieben waren, die sie praktisch ausführten. Sie zeigten damit, dass sie das auf den Kärtchen Geschriebene verstanden hatten. Das  Entwicklungsmaterial zum Schreiben und Lesen bestand aus zwei Alphabetsätzen; ein größerer, bei dem die Vokale eine andere Farbe hatten als die Konsonanten und ein kleinerer, bei dem alle Buchstaben in einer Farbe waren. Es war aber gar nicht so einfach zu definieren, auf welcher Entwicklungsstufe sich die Kinder gerade befanden: Erkennbar war, dass das mechanische Schreiben und Lesen bei ihnen gefestigt war und sie sich gerade auf dem Weg zur intellektuellen Entwicklung befanden. Dieses „Sich auf den Weg Machen“ beinhaltete als nächste Konsequenz den Schritt zur Grundschule, wo diese Entwicklung stattfinden konnte.

Der motorische Vorgang des Schreibens hatte sich bereits beim kleinen Kind mit dem ersten Teil der Methode gefestigt - mit spezifischen Übungen, so wie es auch bei der mündlichen Sprache auf natürlichem Wege erfolgt.

In einer weiteren Phase kann sich dann der „Verstand“ beim schriftlichen Ausdruck dessen bedienen, was schon mechanisch beim Schreiben und Lesen gefestigt wurde. Normalerweise ist das mit fünf Jahren der Fall. Wenn das Kind beginnt, die geschriebene Sprache zu verwenden, um seine Gedanken auszudrücken, ist es reif für die Grundschule. Das passiert aber aufgrund der Reife und nicht des Alters wegen.

Die Kinder blieben bis zu einem Alter von sieben Jahren im „Kinderhaus“, lernten Schreiben, Rechnen, Lesen und sogar Komponieren und so drängelten sie dann zur Schule, da sie einerseits das Alter erreicht hatten und andererseits auch für den Unterricht reif waren. Die Zeit des mechanischen Schreibenlernens war nicht genau definierbar, mit experimentellen Studien versuchten wir sie zu bestimmen. Das „Kinderhaus“ und die Grundschule sind ohnehin nicht verschiedene „Paar Schuhe“ - wie es beispielsweise der Fröbel-Kindergarten und die Grundschule sein könnten - bei uns ist die Schule die Fortsetzung des Kinderhauses. Daher wird auch nichts Neues begonnen, sondern der  „Undefinierbarkeit“ eine neue Form gegeben.

Kehren wir aber nun wieder zum „Kinderhaus“ zurück und nähern wir uns dem fünfeinhalbjährigen Kind. Heutzutage beginnt der Unterricht der Grundschule ohne weiteres schon im „Kinderhaus“.

Vom zweiten Alphabetsatz geht es dann weiter zu einem dritten, wo die Buchstaben des beweglichen Alphabets wesentlich kleiner sind, kalligraphisch perfekt und in einer Anzahl von zwanzig Stück pro Buchstabe, anstelle von vier, wie es bei den anderen war. Weiters gibt es den Alphabetsatz dreimal, jeweils in den Farben weiß, schwarz und rot. Das heißt, es gibt sechzig Exemplare von jedem Buchstaben; darüber hinaus gibt es alle Interpunktionszeichen: Punkte, Beistriche, Akzente, Apostrophe, Fragezeichen und Rufzeichen. Die Buchstaben sind aus einfachem Pauspapier. [Fussnote: Es gibt auch Druckbuchstaben als bewegliches Alphabet - diese sind im Legekasten, in der Reihenfolge wie sie auf der Schreibmaschine angeordnet sind.]

Die Verwendung dieser Alphabetsätze ist vielseitig; wir werden uns damit aber jetzt nicht näher beschäftigen.

Die Übung des Kinderhauses, bei der man Kärtchen, auf denen der Name eines Gegenstandes geschrieben steht, zum entsprechenden Gegenstand legt, fanden alle sehr natürlich. Das war das erste Lesen. Aus der Tatsache, dass das Kind den Gegenstand, der auf dem Kärtchen genannt wurde, erkannte, war für uns klar, dass das Kind lesen kann. In allen Schulen der Welt würde man dieses Vorgehen als logisch empfinden. Ich glaube, dass es für die Kinder aller Schulen, in denen sich diese Methode durchsetzt, einfacher ist, auf diese Art die Namen der Gegenstände zu lernen.

Schon seit geraumer Zeit lehren wir mit dieser Methode das Nomen (Namenwort). Warum nur das Nomen? Ist es nicht ein Teil des Satzes wie jeder andere? Wenn diese Methode dazu führt, dass sich das Kind das Nomen besser merkt, gibt es da nicht einen ähnlichen Weg, um auch andere Wortarten zu lernen (Artikel, Adjektiv (Eigenschaftswort), Verb (Zeitwort), Pronomen (Fürwort), Adverb (Umstandswort), Interjektion (Ausrufungswort), Konjunktion (Bindewort) und Präposition (Vorwort))?

Wenn man ein beschriebenes Kärtchen zum entsprechenden Gegenstand legt, so unterscheidet das Kind gleich intuitiv diese Wortart, das Nomen, von allen anderen; so wurde schon ein wesentlicher erster Schritt in der Grammatik getan.

Mit dem „Lesen“ hat das Kind bereits die Wortarten unterschieden; zunächst
setzte es mit dem beweglichen Alphabet alle möglichen Wörter zusammen und
leistete damit schon eine wichtige Vorarbeit. Das heißt, beim Lesen entdeckt das
Kind selbst die Aussprache der einzelnen Buchstaben und die Betonung dieser
innerhalb des Wortes.

[Fussnote Im Buch „Il metodo della pedagogia scientifica“(„Selbsttätige Erziehung im frühen
Kindesalter“) ist beschrieben, wie das Kind zu lesen beginnt: es spricht die Wörter dem
Klang der einzelnen Buchstaben gemäß aus, ohne den Sinn zu erkennen. Nach mehrma-
ligem Lesen findet es aber die richtige Betonung und das Wort wird so wiedererkannt.]

(Anmerkung der Übersetzerin: Nach der Beschäftigung mit lautgetreuen Wörtern ist auch die Erarbeitung der Phonogramme eine wichtige Arbeit für die deutsche Sprache.)

Das Kind hat somit nicht nur die Betonung des Wortes und die Aussprache der einzelnen Buchstaben analysiert, sondern gleichzeitig auch die Art des Wortes.

Es wäre sicherlich absurd, im Kindergarten eine Phonologie- und Morphologiestudie mit Vierjährigen durchzuführen! Und doch haben die Kinder genau das gemacht. Gerade die Analyse war für die kleinen Kinder das geeignete Mittel und erleichterte das mühelose Schreiben.

Wenn dieses Vorgehen mit einzelnen Wörtern sinnvoll ist, kann es nicht auch für den ganzen Satz verwendet werden? Nachdem wir schon das Nomen von allen anderen Worten unterschieden haben, sind wir bereits mitten in der Satzanalyse. Das Fühlen der Sandpapierbuchstaben und das darauffolgende Aussprechen eines Lautes war der erste Schritt in der Wortanalyse – genauso ist das Erkennen der Wortart Nomen der erste Schritt zur Satzanalyse. Wir brauchen also nur den Prozess fortzusetzen und vielleicht finden wir auch durch die Satzanalyse eine Erleichterung, eine Hilfe um das Kind dazuzubringen, seine Gedanken schon so früh perfekt zu Papier zu bringen.

Wir sind nun schon weit in das Gebiet der Grammatik vorgedrungen und wir machen da weiter. Es kann ein harter Weg sein, aber das macht nichts. Jenes Schreckbild der Grammatik, das nicht weniger grauenhaft ist als die herkömmlichen Methoden des Lesen- und Schreibenlernens, wandelt sich. Es wird daraus eine Aufgabe, die mit Leidenschaft betrieben wird. Die Grammatik wird auf dem Weg die Dinge zu entdecken, die das Kind geschaffen hat, zur lieblichen Begleiterin. Das Kind wird sich eines Tages im Besitz seiner Werke wiederfinden, die seiner Feder entstammen und wird nicht weniger glücklich sein als an dem Tag, an dem seine Hände die ersten Worte formten.


Tja, diese wohltätige Grammatik! Wenn sie beim Schreiben von Sätzen zur liebenswerten und unersetzlichen Helferin wird, bekommen wir von ihr gleich ein ganz anderes Bild als jenes, das wir sonst von ihr haben: wo sie die Sätze einfach zerstückelte, ohne dass dann noch irgendetwas begriffen werden konnte. Es wäre doch so einfach zu sagen: der Satz steht da, lassen wir ihn einfach so wie er ist. Warum wieder auseinandernehmen? Warum ihm den Sinn nehmen, der ihn beseelt und daraus eine Aneinanderreihung von Wörtern machen, die keinen Sinn ergeben? Warum das verderben, was da ist, um sich in eine unverständliche Analyse zu stürzen? Wenn wir die, die schon lesen können, zwingen würden, alle Wörter in einzelne Laute zu zerlegen, würden wir eine gewaltige
Willensanstrengung von ihnen verlangen - das würde nur ein Sprachwissenschaftler tun, der von speziellen Erwartungen getrieben ist.

Wenn das vierjährige Kind aus Lauten, die einzeln keinen Sinn ergeben, etwas schafft, hinter dem eine Idee steht, ist es genauso mit Aufmerksamkeit bei seiner Arbeit wie der Sprachwissenschaftler, vielleicht sogar mit mehr Leidenschaft. Genauso gilt das für die Grammatik, und es wird dieselbe Freude an ihr finden; ausgehend von der Analyse, wird das Interesse an der Grammatik immer größer, bis das Kind zu dem Punkt kommt, wo der fertige Satz vor ihm liegt. Er ist perfekt geschaffen und niemand darf an ihm rühren.


Die Lautanalyse, die zum spontanen Schreiben führt, ist nicht für jedes Alter geeignet. Es sind die Vier- oder Viereinhalbjährigen, die besonderen Gefallen an ihr finden und mit Leidenschaft daran arbeiten. In keinem anderen Alter ist das so und das mechanische Schreiben wird auf diese Weise perfektioniert. Auch das analytische Studium des Satzes, das Verweilen beim Wort mit intensivem Interesse, ist auch nicht in jedem Alter gleich: es sind die fünf- bis siebenjährigen Kinder, jene leidenschaftlichen Wortliebhaber, die dafür prädestiniert sind. Sie können noch nicht viel mit Sätzen anfangen, verstehen aber die Wörter, denen sie sich mit unermüdlichem Interesse widmen.

Unsere Methode wurde als ketzerisch bezeichnet, da sie auf unorthodoxen Ansichten basiert: die erste ist, dass das Kind am besten zwischen vier und fünf Jahren zum Schreiben geeignet ist; die zweite: um die Grammatik zu studieren, ist es dazu am besten von fünfeinhalb bis sieben oder acht Jahre geeignet.

Es ist ein Vorurteil zu glauben, dass etwas konstruiert sein muss, um es analysieren zu können. Es sind die von der Natur geschaffenen Dinge, die wir analysieren, um sie zu verstehen: wir müssen ein Veilchen zerlegen, um zu sehen, wie es zusammengesetzt ist, es ist schön und perfekt, so wie es ist. Um ein künstliches Veilchen zu schaffen, machen wir zuerst die Stängel, dann die Blütenblätter, wir malen sie an, dann machen wir die Staubgefäße und kleben alles zusammen. Menschen, die handwerklich sehr geschickt sind, macht das sehr viel Freude, wenn sie dann schließlich eine perfekte Blume vor sich haben.

Die Analyse dient aber nicht nur der Zerlegung, sondern auch der Konstruktion. Um ein Haus zu bauen, geht man analytisch vor - Stein auf Stein, vom Fundament bis zum Dach; wer schon ein Haus gebaut hat, der kennt es im Detail und hat eine weitaus bessere Vorstellung von seiner Konstruktion als jemand, der es zerstören würde. Deshalb ist auch die Arbeit des Aufbauens eine längere als die des Zerstörens. Und auch das Gefühl ist ein anderes, voll Hoffnung, voll Überraschungen und schließlich Zufriedenheit ein Gebäude aufzubauen, als etwas harmonisch Aufgebautes zusammenfallen zu sehen.

Aus diesen vielen Gründen kann ein Kind, das Interesse an den Worten hat, die Grammatik gemäß seiner inneren Reife benutzen, indem es bei den einzelnen Worten verweilt. Es besitzt seine individuelle Sprache und hat die Möglichkeit, sie zu würdigen.

Die Grammatik ist für uns nicht bloß ein Buch.

So wie die Nomen auf Kärtchen geschrieben stehen, die die Kinder zu den entsprechenden Gegenständen legen, sind alle Wörter auf Kärtchen geschrieben. Diese sind gleich groß: Rechtecke im Ausmaß von 5 x 3,5 cm, aber von verschiedener Farbe: schwarz für das Nomen, hellbraun (hellblau) [Anmerkung der Übersetzerin: Die Farbangaben entsprechen den Originalfarben und
werden von der AMI vertreten und verbreitet; die Farben in Klammern sind diejenigen, die
heute bei einigen Materialherstellern auch üblich sind.
] für den Artikel, dunkelbraun (dunkelblau) für das Adjektiv, rot für das Verb, rosa (orange) für das Adverb, grün (lila) für das Pronomen, lila (grün) für die Präposition, gelb (rosa) für die Konjunktion und hellblau (gelb) für die Interjektion.

Diese Kärtchen befinden sich in acht speziellen Schachteln: die erste hat zwei Fächer, die zweite hingegen drei, die dritte vier usw. Jedes Fach hat einen erhöhten Teil, in den man ein Kärtchen legen kann, auf dem der Name der Wortart steht, die sich in der Schachtel befindet. Die Kärtchen haben die Farben der entsprechenden Wortart.

Die Lehrerin stellt die Schachteln so zusammen, dass sie für das Studium von zwei oder mehr Wortarten geeignet sind.

Unsere Erfahrungen haben uns dazu gebracht, die Übungen genau vorzubereiten - das erleichtert die Arbeit.

 

ii. Das Wortstudium

Wenn das kleine Kind zu lesen beginnt, zeigt es lebendiges Interesse daran, Worte zu lernen. Bereits im „Kinderhaus“ war es beeindruckend, dass die Kinder unerschöpflich nach den Kärtchen „jagten“: sie lasen eines nach dem anderen, bis sie alle Nomen gelesen hatten.

Das Kind muss sich nämlich erst seinen eigenen Wortschatz erobern: es möchte seine Gedanken ausdrücken und muss sich nun das notwendige Material dazu aneignen. Viele werden schon beobachtet haben, dass die Kinder in diesem Alter ganz aufmerksam zuhören, auch wenn man annehmen möge, dass sie unmöglich den Inhalt des Gesprächs verstehen: sie versuchen, möglichst viele Worte zu sammeln, manchmal wiederholen sie ganz stolz ein aufgeschnapptes Wort. Wir müssen nun dem Wunsch des Kindes entsprechen, indem wir ihm möglichst viel Material anbieten und Übungen zusammenstellen.

Unser System besteht aus ausreichendem Material. Allmählich zeichnen sich individuelle Unterschiede in der Auswahl des Materials ab. Für einige sind die Übungen einfach, für andere schwierig. Nicht einmal die Anordnung der Wahl ist dieselbe.

Die Lehrerin muss das Entwicklungsmaterial ganz genau kennen und auch wissen, wann sie welche Übung anbietet. Wer ein bisschen Praxis hat, weiß, dass sich dabei vieles spontan ergibt, das überraschend die Aufgabe der Lehrerin erleichtert.

 

Vor- und Nachsilben

Es gibt dazu Tafeln, die an der Wand fixiert sind; die Kinder können sie anschauen und auch herunternehmen.

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