Flächenland von Edwin A. Abbot

 

Dieser Roman ist ein Klassiker der Science-Fiction Literatur. Ein altes Quadrat erzählt von seinem Leben im Flächenland und seinen Ausflügen in das Raum-, Linien- und Punktland.

Teil I: Flächenland § 1 Von der Natur des Flächenlandes

Ich nenne unsere Welt Flächenland - nicht weil wir sie so nennen, sondern um euch, meinen glücklichen Lesern, die ihr das Privileg genießt, im Raume zu leben, ihre Natur besser erklären zu können.

Stellt euch ein weitausgedehntes Blatt Papier vor, auf dem sich gerade Linien, Dreiecke, Quadrate, Fünfecke, Sechsecke und andere Figuren, anstatt an einem festen Ort zu bleiben, frei hin und her bewegen, jedoch ohne das Vermögen, sich darüber hinaus zu erheben oder darunter zu sinken, e twa wie Schatten - nur scharf umrissen und mit leuchtenden Kanten - und ihr werdet eine ziemlich exakte Vorstellung von meinem Land und meinen Landsleuten haben. Ach! vor einigen Jahren hätte ich noch gesagt: von meinem Universum, doch nun ist mein Denken einer höheren Schau geöffnet.

In einem solchen Land ist es (wie ihr sofort erkennen werdet) unmöglich, daß irgend etwas der Art existieren könnte, was ihr einen »festen Körper« nennt; aber wahrscheinlich nehmt ihr zunächst an, daß wir zumindest durch ihren Anblick die Dreiecke, Quadrate un d anderen Figuren unterscheiden können, wie sie sich, so wie oben beschrieben, umherbewegen. Im Gegenteil - nichts davon können wir sehen, wenigstens nicht so, daß wir eine Figur von der anderen unterscheiden könnten. Nichts war für uns sichtbar oder konnte auch nur sichtbar sein , außer Geraden. Daß dies notwendigerweise so sein muß te, will ich sogleich bewei sen. Lege, Leser, eine Münze mitten auf einen eurer Tische im Raum, beuge dich darüber und sieh hinab: sie wird als Kreis erscheinen.

Nun aber zieh dich zum Rand des Tisches zurück und gehe mit deinem Gesicht immer tiefer (womit du dich mehr und mehr den Erkenntnisumständen der Bewohner von Flächenland näherst), und du wirst sehen, daß die Münze mehr und mehr oval erscheint. Und schließlich, wenn du dein Auge genau auf die Höhe der Tischkante gebracht has t (so daß du sozusagen zum Flächenländer geworden bist), wird die Münze nicht mehr oval erscheinen und, soweit du es erkennen kannst, eine Gerade geworden sein.

Dasselbe würde geschehen, wenn du auf dieselbe Weis e mit einem Dreieck, einem Quadrat oder irgendeiner anderen aus Karton ausgeschn ittenen Figur verfahren würdest. Sobald du sie mit deinem Auge am Rande der Tischplatte betrachtest, wirst du bemerken, daß sie dir nicht länger als Figur erscheint, sondern - der Erscheinung nach - zu einer Geraden wird. Nehmen wir zum Beispiel ein gleichseitiges Dreieck (das bei uns einen Kaufmann der wohlgeachteten Klasse darstellt). Abbildung 1 zeigt den Kaufmann, wie du ihn sehen würdest, von oben über ihn gebeugt; Abbildun g 2 und 3 so, wie er dir erscheint, wenn dein Auge nahe der Tischoberfläche oder beinahe auf ihrer Höhe angelangt ist; und wenn deinAuge ganz auf der Ebene der Tischplatte angelangt ist (und eben so sehen wir ihn in Flächenland), so siehst du nichts als eine Gerade .

Als ich in Raumland war, habe ich gehört, daß eure Seeleute ganz ähnliche Eindrücke haben, wenn sie über die Meere fahren und eine ferne Insel oder Küste am Horizont auftauchen sehen. Das weit vorausliegen de Land mag Buchten, Landzungen, ein- und auswärtsweisende Winkel in jeder Menge und in jedem beliebigen Ausmaß besitzen, doch von weitem sieht man nichts davon (es sei denn, eure Sonne scheint hell auf das Land und läßt die Vorsprünge und Einschnitte durch Licht und Schatten sichtbar werden), nichts als eine ununterbrochene graue Linie auf dem Wasser .

Nun, genau das sehen wir, wenn einer unserer dreieckigen oder wie auch immer geformten Bekannten in Flächen land auf uns zukommt. Da es bei uns keine Sonne gibt, noch irgendeine Lichtquelle der Art, daß sie Schatten werfen würde, besitzen wir keine der Sichthilfen, über die ihr in Raumland verfügt. Wenn unser Freund näher kommt, sehen wir, wie seine Linie größer wird; verläßt er uns, wird sie kleiner; aber immer sieht er wie eine gerade Linie aus, sei er nun ein Dreieck, Quadrat, Fünfeck, Sechseck, Kreis - in allen Fällen sieht er aus wie eine Gerade und nichts anderes.

Ihr fragt euch vielleicht, wie wir unter diesen ungünstigen Um ständen unsere Freunde voneinander unterscheiden können. Doch die Antwort auf diese in der Tat naheliegende Frage wird sich zwangloser und angemessener ergeben, wenn ich die Bewohner von Fl ächenland beschreibe. Im Augenblick lasse man mich diesen Gegenstand zurückstellen und ein paar Sätze über das Klima und die Behausungen in unserem Lande sagen.

§ 2 Vom Klima und den Behausungen in Flächenland

Wie bei euch, gibt es auch bei uns vier Richtungen: Norden, Süden, Osten und Westen.

Da es keine Sonne oder andere Himmelskörper gibt, ist es uns nicht möglich, Norden auf die übliche Art und Weise festzulegen, aber wir haben unsere eigene Methode. Es herrscht bei uns ein Naturgesetz: es existiert eine konstante Anziehungskraft nach Süden, und obwohl diese in den gemäßigten Zonen sehr schwach ist (so daß selbst eine Frau, die sich einigermaßen bei Gesundheit empfindet, sich ohne Schwierigkeiten eine h albe Meile oder so nach Norden bewegen kann), ist der hemmende Effekt der An ziehung nach Süden durchausgenügend, um in den meisten Teilen unserer Welt als Kompaß zu dienen. Zusätzlich stellt der Regen, der in festen Abständen fällt, und zwar immer von Norden, eine weitere Hilfe dar, und in den Städten haben wir als Anhaltspunkt die Häuser, deren Seitenwände natürlich zum größten Teil in Nord-Süd-Richtung verlaufen, damit die Dächer den Regen von Norden abhalten können. Auf dem Lande, wo es keine Häuser gibt, geben die Baumstämme eine gewisse Orientierung. Insgesamt haben wir geringe re Schwierigkeiten, als man annehmen sollte, uns zurechtzu finden.

Und doch - in unseren gemäßigteren Zonen, in denen die südliche Anziehung kaum spürbar ist, sah ich mich bei dem Gang durch eine völlig öde Ebene, wo kein Baum und kein Haus mir zur Orientierung dienen konnte, zuweilen veranlaßt stundenlang an derselben Stelle zu verharren und auf den Regen zu warten, bevor ich meine Reise fortsetzen konnte. Für die Schwachen und Alten und vor allem für zarte Frauen ist die Anziehungskraft sehr viel stärker fühlbar als für das männliche Geschlecht, so daß es eine Frage des guten Tons ist, einer Dame, die man trifft, immer die Nordseite des Weges einzuräumen - durchaus nicht immer einfach, sich da schnell zu entscheiden, wenn man bei robuster Gesundheit ist und sich in einem Klima befindet, wo Norden und Süden nur mühsam zu unterscheiden sind.

Fenster haben unsere Häuser nicht, denn das Licht erreicht uns gleichermaßen in unseren Häusern wie außerhalb, bei Tag und bei Nacht, zu allen Zeiten und an allen Orten gleichmäß ig – woher, wissen wir nicht. In alten Zeiten war dies unter unseren Gelehrten eine interessante und häufig verfolgte Fragestellung: Was ist der Ursprung des Lichts? Oft wurde die Lösung versucht, doch als einziges Ergebnis füllten sich unsere Irrenhäuser mit den Lösungsbeflissenen. Daher hat (nach vergeblichen Versuchen, diese Art Untersuchungen indirekt zu unterbinden, indem man sie mit einer drückenden Steuer belegte) die Legislative sie vor verhältnismäßig kurzer Zeit absolut verboten. Ich - ach, ich allein in Flächenland - kenne nun die wahre Lösung dieses geheimnisvollen Problems nur zu gut, doch kann ich mein Wissen auch nicht einem einzigen meiner Landsleute verständli ch machen, und man spottet meiner - der ich allein die Wahrheiten des Raumes und die Theorie des Lichteinfalls aus der dreidimensional en Welt besitze -, als wäre ich der Verrückteste aller Verrückten! Doch genug dieser schmerzlichen Abschweifung; kehren wir zu unseren Häusern zurück.

Die verbreitetste Form der Konstruktion eines Hauses ist die fünfseitige oder pentagonale, wie in der beigefügten Abbildung.

Die beiden nördlichen Seiten AB und BC bilden das Dach und haben meistens keine Türen. Im Osten ist eine kleine Tür für di kleine Tür für die Frauen, im Westen eine viel größere für die Männer; die Südseite - der Boden - ist meist türlos. Quadratische und dreieckige Häuser sind nicht gestattet, und zwar aus folgendem Grund. Da die Winkel eines Quadrats u nd mehr noch die eines gleichzeitigen Dreiecks viel spitzer sind als die eines Fünfe cks, und die Linien bewußtloser Objekte (wie zum Beispiel von Häusern) schwächer ausgepräg t sind als die Linien von Männern und Frauen, ist offensichtlich, daß die Gefahr, ein unachtsamer oder geistesabwesender Reisender könne plötzlich gegen die Spitzen eines quadratischen oder dreieckigen Hauses anrennen und sich schwer verletzen, keine geringe ist. So wurden bereits im elften Jahrhundert unserer Zeitrechnung dreieckige Häuser generell durch Gese tz verboten, wobei nur Befestigungsanlagen, Pulvermagazine, Kasernen und andere Staatsgebäude ausgenommen wurden, wo es wünschenswert erscheint, daß sich die breite Öffentlichkeit nur vorsichtig nähere.

Zu dieser Zeit waren quadratische Häuser noch überall erlaubt, obwohl man versuchte, die Erbauer durch eine Sondersteuer davon abzubringen. Doch etwa drei Jahrhunderte später erging ein Gesetz, daß in allen Städten mit einer Einwohnerzahl über zehntausend der Winkel eines Fünfecks der kleinste Architektur-Winkel sei, der im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit gestattet werden k önnte. Die Vernunft des Publikums hat die Anstrengungen der gesetzgebenden Körperschaft unterstützt, und jetzt hat selbst auf dem Land die Fünfeckskonstruktion jede andere verdrängt. Nur hie und da trifft der Altertumsforscher in sehr entlegenen und zurückgebliebenen ländlichen Distrikten auf ein quadratisches Haus.