Grün wie Schnee von Erich Wimmer

 

Alfons Schacherl - Geigenlehrer, Verkäufer in einem CD-Geschäft, Student, passionierter Leser und Liebender - horcht bei allen Erlebnissen aus seinen zahlreichen Tätigkeiten feinfühlig%

 

 

 

Der Autor

Erich Wimmer, geb. 1966 in Linz, absolvierte am Bruckner Kon­servatorium eine Ausbildung zum Geigenlehrer und unterrichtet an den Landesmusikschulen Bad Leonfelden und Freistadt. Ne­ben seiner Lehrtätigkeit betreibt er theologische Studien an der ka­tho­li­schen Hochschule in Linz. Er ist seit seiner Jugend passionierter Leser und entwickelte aus seinen Leseerfahrungen das Be­dürf­nis, seine Lebensanschauungen auf persönliche Weise in seinen Roma­nen und Essays darzustellen.


1996      1. Preis beim AK-Wettbewerb Max-von-der-Grün „Literatur zur Arbeitswelt“
1997      Erster Roman „Schade Zeit“, Ed. Die Donau Hinunter
1998      Arbeitsstipendium des Bundes für den vorliegenden Roman
2000     Stipendium der Filmhochschule München für eine Dreh­buchentwicklung

 

Inhalt

Frühling

Sohalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Lorenz lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Ohneevaabende  . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Mynhers Trabanten  . . . . . . . . . . . . . . . 41
Die Nettkurve  . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Amanda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Pizzafritz und Pizzafred . . . . . . . . . . . . 63
Durch den Hasen schauen  . . . . . . . . . . . . 65
Kistenkasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Dualis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Kosmos der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Sag zum Abschied leise Desoxyribonukleinsäure  . 89

Sommer

Abfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95
Fliegende Läuse . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Auf der Eisenbahn . . . . . . . . . . . . . . . 120
Calvi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Halley-Bopp . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Café in Bastia  . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Herbst

Rübenvollernter . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Gratishörer, Umsteller und Astronomische  . . . 159
Entenfasching   . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Eva zu Eva  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Drei kurze Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 169
Der Klang der Wolken  . . . . . . . . . . . . . 175
Bonusstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Schmarotzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
Doktor Moktor . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Ins Weltall starren . . . . . . . . . . . . . . 190

 

 

Das Prinzip der Schöpfung und der Organismus
der Staaten gleichen einander.
Sie haben alles bedacht;
nur das Sein des einzelnen vergaßen sie.
Hans Henny Jahnn

 

Für Judith,
die mir erklärte, sie wäre keine Fee,
und mich gleich darauf in einen Frosch verwandelte.

 



FRÜHLING

Sohalt


Wäre ich Odysseus, dann ist das, was ich jetzt erzähle, so ziemlich das Ende meiner Irrfahrt, die sich mit jeder noch so prächtigen Irrfahrt messen kann, weil der gute alte Dorn auf seine Weise auch ein Zyklop war und Eva eine Sirene, und überhaupt eine Reihe von Dingen passiert sind, die mein Leben nachhaltig verändert haben. Davon soll die Rede sein, von diesem ganz persönlichen Haufen kleinerer und größerer Ereignisse, die das Schicksal über die Mauer meiner Vorurteile in den Garten meiner Seele gekippt hat, und deren Widerhall - hoffentlich - eine Stimmung wiedergibt. Welche genau, weiß ich noch nicht. Ich fange ja erst an zu schreiben, und es ist nicht sicher, ob das, was ich schreibe, am Schluß mit dem überein­ stimmt, was ich in den letzten Monaten empfunden habe. Auf kei­nen Fall möchte ich bloß eine Hauptgeschichte erzählen, so eine Art Ozeandampfer, der im Brackwasser der Literatur herumdümpelt und dessen gesammelte Episoden, wie gebügelte Wimpel nebenei­nander an der straff gespannten Schnur flattern, weil mir das übliche Schema eines Romans in letzter Zeit ein wenig verleidet worden ist. Dazu muß ich folgendes sagen: im Schnitt kaufe ich die Hälfte mei­ner Bücher am Flohmarkt. Man glaubt gar nicht, was da herumliegt.
Nur ein kleines Beispiel:

Am Sonntag vor ein paar Wochen stehe ich drüben am Parkplatz vor dem Supermarkt, rund um mich aberwitziger Kram wie im Orient, fehlen nur noch die Kamele, sonst ist alles da, vom Hirsch­geweih bis zum Sockenwärmer, auch rostige Nasenhaarschneider, und ich mitten drin und vor mir eine Kiste mit Büchern. Die sehen alle ziemlich neu aus, wahrscheinlich hat sie jemand nur als Schmuck gekauft, und vor kurzem ist ihm das Regal zusammengebrochen, und bevor er sie wegwirft ...  Jedenfalls läuft mir das Wasser im Mund zusammen: eine Biographie von Meister Spengler, der David Copper­field, zwei Romane von Strindberg, hab ich gar nicht gewußt, ich kenne ihn nur als Dramatiker, und ähnliche Kaliber. Nach fünf Minuten habe ich 15 Stück beisammen und frage den  guten Mann hinter dem Tresen, was das ganze kosten soll.

„Die dünnen fünf, die dicken zehn”, sagt er und kümmert sich nicht weiter um mich. Ich beschließe, daß ich fünfzehn dünne habe und sage: „Zwölf dünne”. Und das, obwohl sicher die Hälfte über 200 Seiten hinausschießt, vor allem der Copperfield, ist echt eine Zumutung, den zu den dünnen zu zählen mit seinen 1000 Seiten. Irgendwie habe ich das auch gar nicht so ernst gemeint, sollte ein kleiner Scherz sein, aber der Typ hinterm Tresen lacht nicht mit, er sieht nicht einmal her, und plötzlich frage ich mich, ob ich schon aufgewacht bin. Wo, außer im Traum, gibt es denn so eine Einheit, dicke und dünne Bücher, da kann er ja gleich mit der Schaufel kom­men und fragen, wie viele Deka sollen es sein, fünfunddreißig, darf ich’s lassen, wie beim Fleischhauer. Wahrscheinlich träume ich noch. Ich drücke ihm 60,- in die Hand und kaufe beinahe noch eine Box mit zwölf Donald-Duck-Heften. Leider habe ich schon vier von diesen Nummern, also lasse ich es bleiben. Jetzt bereue ich das. zwölf Duck um 250,- sollte man unter allen Umständen kaufen.


Auf so Riesenflohmärkten gibt es immer ein paar Gegenstände, von denen keiner mehr weiß, wozu sie gut sind oder ob sie über­haupt je eine Funktion gehabt haben. Die gefallen mir am meisten. Nicht, daß ich sie kaufe, ich überlege nur, was das einmal gewesen sein könnte. Neben der Duck-Box lag zum Beispiel etwas, das mich von schräg vorne irgendwie an eine Geige erinnerte, von der anderen Seite sah das ganze wie ein Minensuchgerät aus. Wahrscheinlich war es keines von beiden, sondern einer von den Sendern, die Außerirdische da und dort deponieren. Wenn jetzt jemand meint, ich leide unter Verfolgungswahn, dann irrt er sich. Ich muß nur manch­mal an diese kleinen Sensoren und Geräuschmelder denken, die man im Kinderzimmer montiert, damit man eingreifen kann, wenn die Kleinen zu viel Blödsinn machen. Ich glaube, mit den Menschen ist das auch so. Verglichen mit den Außerirdischen sind wir natürlich Babies, klar, wir sind ja erst seit ein paar tausend Jahren so richtig im Weltraum und sie schon seit Zillionen, so gesehen ist es logisch, daß sie uns da ab und zu einen Babydetektor ins Zimmer, das heißt, in die Atmosphäre stellen, damit sie eingreifen können, bevor wir uns endgültig wegsprengen. Jedenfalls ist das eine meiner Hoffnungen.


Nach dem Flohmarkt habe ich mich gleich auf den Strindberg gestürzt. Und war enttäuscht. Nicht, daß mich jemand falsch ver­steht. Natürlich ist er ein Champion, war alles da: feine Beobachtun­gen, die wirklich nicht jeder macht, sicherer Stil, guter Rhythmus, klar konturierte Figuren; alles, wie es sein soll bei wirklich gediege­nen Romanen. Trotzdem war ich enttäuscht. Ich mußte einfach schon wieder denken. Schon wieder ein prächtiger Prachtbildband. Wunder­schöne Abendstimmungen, weite Fjorde, mittendrin schnauft ein kleiner, weißer Dampfer, da ein Gebirge, dort eine Stadt, Porträts der Einheimischen mit Stoppelbart und rotem Kopftuch, und da­zwi­schen Blumen in Großaufnahme oder ein tausendjähriger Baum, alles bestechend fotografiert.

Mein Problem ist nur, solche Bildbände habe ich schon tausend Mal gesehen, und einen Verdacht werde ich auch nicht mehr los: ich glaube, die Prachtbände sollen vor allem das Interesse möglichst vieler Käufer wecken. Es gibt kein oder fast kein Buch, das wagt, sich nur an einen Leser zu richten. Dabei, finde ich, sollte ein Buch genau so sein. Es sollte für einen einzigen Leser geschrieben sein, wie ein Fotoalbum mit windschiefen, verwackelten, unterbelichteten, räudigen Fotos mit schräg  abgeschnittenen Gesichtern und völlig mißglückten Perspektiven, ein Album, das überhaupt nicht  veröf­fentlicht werden soll, das von den Eltern nur für ihr Kind angelegt wird, als private Erinnerung.


Chimos Sagt Lila ist so ein Buch. Da erfährst du auf 200 Seiten mehr über Chimo und seine Welt als  auf 800 Seiten Zauberberg über Thomas Mann. Ich will jetzt nichts gegen den guten Thomas sagen, er war zweifellos ein echter Obermufti, ich habe fast alles von ihm gelesen, mit großem Respekt,  aber nie mit Leidenschaft. Wenn er mir auf der Straße begegnete und ich hätte einen Zylinder auf, würde ich den ganz tief ziehen, auch wenn mir seine Romane momentan verleidet sind. Beim  Zauberberg hatte ich immer das Gefühl, das kann noch ewig so weiter gehen, der Autor selbst bleibt eine leere Comicsprechblase, in der man den Text vergessen hat. Manche Kritiker fangen ja gerade  deshalb an zu jubeln und springen wie Geißböcke und sagen: unerhört, wie sich der Autor aus der  Geschichte herausnimmt; das gefällt ihnen, denn die oberste Tugend ist Bescheidenheit. Schlimm ist nur die Art dieser Bescheidenheit. Es geht nicht um eine klar konturierte Persönlichkeit, die  bescheiden ist, sondern darum, daß die Persönlichkeit selbst verschwindet - wie ein Zwerg mit einer  Tarnkappe. Und je mehr der Autor verschwindet, desto höher springen die Kritiker in die Luft. Dabei  ist das alles Schwachsinn. Man kann sich nicht einmal aus einem Satz herausneh­men, man kann sich nur notdürftig verstecken, wie ein Elefant hinter einem Ahornblatt. Deshalb sollte man gleich die  Flucht nach vorne antreten und vom ersten Satz an versuchen, so viel wie möglich über sich selbst zu sagen.

Man braucht bloß an Menschen wie Kant zu denken. Ein Professor an der Uni, wo ich Theologie inskribiert habe, hat einmal gesagt: „Kant starb, als er Teile seines Programmes gerade einmal skizziert hatte!” Das hat mir zu denken gegeben. Kant wurde für damalige Verhältnisse ohnehin ein Methusalem. Er hätte wahr­scheinlich so an die tausend Jahre gebraucht, um aus der Skizze halbwegs ein Bild zu machen. Das heißt, um in der Welt tatsächlich anwesend und nicht bloß vorhanden zu sein. Das gilt natürlich für alle Men­schen. Und obwohl keiner von uns 1000 Jahre zur Verfügung hat, sondern bestenfalls klägliche 70, von denen mindestens 20 für schla­fen draufgehen und mehr noch für arbeiten, und ein paar bloß für herumkramen und in der Nase bohren, trotz alledem sollen sich die, die zumindest versuchen, sich zu artikulieren, hinter den Figuren ihrer Werke verstecken. Ich verstehe das nicht.

Versteckenspielen kann man im Grab noch lange genug. Solange man am Leben ist, sollte man auf die Welt kommen, sich gebären, wenigstens ein paar Häute abstreifen. Beim Menschen sind die Häute ja viel dicker und mehr als bei Insekten, die häuten sich ein, zwei Mal und schwupp, weg sind sie, steigen auf wie Raketen und lassen dich alleine zurück in der Schwerkraft. Ein Mensch muß mindestens hundert Häute abstreifen, bevor er langsam abheben kann, aber soweit kommt er ohnehin fast nie.

Und warum? Weil er natürlich wie alle anderen an dem dicken Seil klebt, mit dem die Expedition Menschheit in der Wand eines unbe­kannten Berges hängt. Das muß man sich vorstellen! Milliarden Menschen an einem einzigen Seil! Und plötzlich kommt einer auf eine Idee und möchte damit alle anderen beglücken. Er erzählt voller Optimismus drauf los, und die Idee verbreitet sich. Aber schon beim Zehnten in der Reihe ist die Idee kaum mehr wiederzuerken­nen, ganz zu schweigen vom Hundertsten oder vom Tausendsten.

Daraus kann man einen Haufen Schlüsse ableiten. Die meisten wurden schon abgeleitet, interessieren mich aber auch nur bedingt. Mein privater Schluß ist der: anstatt Ideen weiterzugeben, sollte man sie zuerst testen. Wie ein kleines Modellsegelboot, das man gerade zusammengeleimt hat und in irgendeinem Tümpel abseits vom Trubel aussetzt. Geht es unter, ist alles halb so schlimm, weil es kei­ner sieht und niemand lachen kann. Bei so kleinen Booten ist man immer vorsichtiger und will sich unter keinen Umständen blamieren; Ideen, auch wenn sie noch so groß sind, die werden gleich abge­schossen, daß es kracht. Wenn man unbedingt das Bedürfnis hat, et­was weiterzugeben, dann sollten das keine Ideen, sondern Stim­mun­gen sein.

Stimmungen lassen sich nicht verändern, man ist damit schwan­ger oder nicht. Es gibt keine drei Millionen Zwischenstadien wie bei einer Idee, die von der ersten Sekunde an zum Zerfall verurteilt ist. Man braucht bloß an Hölderlins Hyperion zu denken. Ich denke ziemlich oft daran. Das sind keine Ideen, das Buch ist eine einzige Stimmung: die Zärtlichkeit. Wenn ich das Bedürfnis danach habe, und das ist ziemlich oft der Fall - ich bin die meiste Zeit meines Lebens alleine gewesen, zumindest bis vor knapp eineinhalb Jahren war das so -, dann lese ich einen Brief an Diotima. Die Zärtlichkeit fällt auf mich wie ein warmer Regen, meine Seele ist eine Katze und die Sätze streicheln mein Fell.


Bei fast allen Menschen, die ich kenne, ist das anders. Ihre Stimmungen gleichen mehr den Ideen und sind immer gerade dabei zu zerfallen, anstatt sich zu verdichten, und von hunderttausend Umständen abhängig. Meistens sind sie nicht gut drauf und leben halt so dahin in Erwartung irgendwelcher Dinge, die aber nie kom­men, weil keiner weiß, wie diese Dinge aussehen sollen, ich vermute Superorgasmen in Dosen, das Ganze scheitert aber noch an der schwierigen Verpackung. Jedenfalls sind ihre Stimmungen haupt­sächlich damit verwachsen, was man gerade laut irgend einer Zeitung oder eines Talkmasters zu fühlen hat. Die Neue Individualität, Cocooning, Gumbonetik und Trallala ... und dann diese In und Out-Listen. Es gibt Leute, die sind echt bestürzt, wenn sie etwas gut finden, das gerade out oder total out ist, dabei haben solche Listen nicht einmal annähernd den existentiellen Wert eines benutzten Toilettenpapiers.

Wenn du sie fragst, wen wählst du oder wieviel verdienst du im Monat oder wie alt bist du, dann schauen sie dich an wie Mäuse, du bist die große, böse Schlange, die mit der zweigeteilten Zunge flappt, weil man das einfach nicht fragt und man das nicht sagt, also sagen die Mäuse nichts, sie hüpfen bloß aufgeregt herum. Sie schrei­en Hilfe, weil es jetzt um die Eckdaten geht. Die Knochen sozusa­gen. Wenn sie die fortlegen, brechen sie zusammen, weil sie sonst keine haben.

Einmal hat Mike, das ist mein Kumpel, ein Mädchen nach ihrem Alter gefragt. Darauf hat sie geantwortet: „So etwas fragt man nicht.” Und er: „Warum nicht?” Und sie: „Sohalt.”

Der berühmte Grund Sohalt. Wenn mir jemand damit kommt, befällt mich immer der schorfige Mehltau, obwohl das eigentlich eine Getreidekrankheit ist. Ganz im Ernst. Das eigene Alter ist das einzige auf der Welt, wofür man wirklich nichts kann. Bei mir ist das ganz einfach: so wie ich lebe, freue ich mich über jeden Tag, den ich vom großen Birnbaum pflücke. Ich meine, Handkuß für jede Stunde, wo ich nicht quer in einer Scheibtruhe liege und mit Verdacht auf Dickdarmkrebs ins Krankenhaus gekarrt werde oder mir in einer muffigen Amtsstube ein zwanghafter Beamter die Lebenszeit aus der Milz schneidet. Meine einzige Sorge, wenn über­haupt, ist meine Lebensfreude. Manchmal glaube ich, mein Herz hängt mit dem dünnen Stiel eines Blattes in meiner Brust und der nächste Freudenstrom bläst es herunter, aber noch hat es zum Glück jedem Ansturm von Noten und Sätzen standgehalten, was mich immer wundert, weil ich Bücher nicht lese, sondern fresse mit meinem Leserüssel, schmatzend wie ein Schwein seine Morcheln, und in Noten bade ich stundenlang, wie Dagobert Duck in seinem Gold. Und jeder Tag, den ich zu den anderen noch dazu bekomme, ist ein Bonus, wie eine fabelhafte LP, die mehr Songs als Rillen hat, und bei jedem Mal hören entdeckst du wieder neue. Ich bedauere alle, die jünger sind, und wo es nicht feststeht, ob sie je so alt werden wie ich jetzt, kann sein, schon heute Nacht sitzen sie bei einem im Auto, der sein Können über- und die 150 PS seines Wagens ein klein wenig unterschätzt, dann fahren sie alle in der nächsten Kurve gerade aus, direkt ins Krematorium, aber auch wenn sie es überleben und so alt werden, wie ich es jetzt bin, frage ich mich, was ist das für ein Leben, bei den Gesichtern, lauter ausgepreßte Zitronen.

Bevor jetzt jemand aufhört zu lesen, möchte ich ihm noch die nächsten paar Absätze empfehlen. Die haben zwar nur indirekt mit dem Rest des Buches zu tun, sind aber eine bessere Marke um auf­ zuhören, als jetzt mittendrin. Ich komme nämlich gerade vom Land, wo meine Mutter und meine Großmutter in einem renovierten Bauernhof wohnen. Dort gibt es einen Löschteich. Heute schwamm eine tote Schnecke drinnen. Keine von den orangen Würstchen, sondern eine mit einem Haus. Jedenfalls mußte ich gleich an Giraffen denken. Ich habe mir immer eingebildet, Giraffen wären die einzigen Tiere, die nicht schwimmen können. Als ich dann die Schnecke treiben sah, kam es mir plötzlich ganz logisch vor, daß ich Schnecken ab jetzt auch zur Gruppe der Giraffen zählen muß. Ich war ganz verblüfft, und die Schnecke tat mir leid, weil das wirklich schlimm sein muß, gar kein Organ zu haben, mit dem sich paddeln oder strampeln läßt, und dann noch dieses sperrige Haus. Jedenfalls habe ich lange überlegt, und plötzlich schaute ich wieder in den Teich und sah, wie die Schnecke am Abflußrohr hochkroch. Ich hatte sie schon aufgegeben, und auf einmal, als sie die Strömung zum Abfluß trieb, konnte sie irgendwie den Beton erreichen und kroch nun froh nach oben. Das hat mich echt bestürzt. Ich war von ihrem Tod überzeugt, also versuchte ich erst gar nicht, sie aus dem Wasser zu fischen.

Das ist eigentlich alles, was ich damit sagen möchte: auch wenn Schnecken tot aussehen, sollte man sie aus dem Wasser fischen. Wenn jetzt jemand meint, Schnecken sind schädlich und man sollte sie absaufen lassen, dann muß ich dazu folgendes sagen: wenn sich ein Salatbauer, der von Salat lebt, gegen eine Zillion Schnecken ver­teidigt, die sich unkontrolliert vermehren, dann finde ich das in Ordnung, aber eine Schnecke im Tümpel ist eine ganz andere Geschichte. Das ist ein echter Unglücksfall, und man sollte um Gotteswillen nicht auf alle Schnecken schauen und davon etwas ableiten, sondern nur die eine sehen. Einmal habe ich im Garten Bretter vom Boden aufgehoben und zum Vorschein kam eine Maus mit ihren Jungen. Die Kleinen waren vermutlich gerade geschlüpft, jedenfalls hingen sie an den Zitzen der Mutter, die deshalb nur ganz langsam flüchten konnte. Normalerweise hole ich unsere Katze, wenn ich irgendwo eine Maus entdecke. In dem Fall habe ich es aber bleiben lassen. Ich finde, die Mäusemutter war irgendwie außer Konkurrenz, sie war so gehandicapt, daß man sie einfach in Ruhe lassen mußte.

Ich könnte jetzt noch hundert ähnliche Beispiele erzählen, dann würde aber die Geschichte überhaupt nie anfangen, also beschränke ich mich auf eines. Vor kurzem habe ich Kuno getroffen. Beim Stöbern in einem Abverkaufskistchen in einer Buchhandlung. Ich hatte mir schon eine Straßenkarte der USA gekauft und sie auf die Seite gelegt, statt 130,- um 10,-Schilling. Als Kuno die Karte sah, mußte er gleich loslachen. Dann sagte er ganz laut: „Die ist ja total veraltet! Davon hast du nichts.”


Die Karte war wirklich zehn Jahre alt, und sicher wurden da und dort ein paar kleinere Straßen geschlossen und ein paar dazugebaut und so weiter. Aber für einen, der so reist wie ich, spielt das keine Rolle. Momentan lese ich Früchte des Zorns. Mit der Karte kann ich jetzt den alten Laster der Familie Joad auf der Landkarte verfolgen, wie er durch die Berge Richtung Kalifornien rumpelt. Gelernt habe ich das von einer fabelhaften Leserin; sie hat mir einmal erklärt, wie sie Fontanes Reise durch die Mark Brandenburg liest: mit einer großen Landkarte an der Wand und Stecknadeln, mit denen sie jede Station markiert. Das hat mir unheimlich gefallen. Seither mache ich das, wenn es das Buch und mein Budget erlauben, auch. Klar, daß Kuno das nicht wissen kann. Er hat ja nur den allgemeinen Fall, die Zillionen Schnecken, und da muß man immer mit der Giftspritze ausrücken. Nur, denke ich, sollte man irgendwann im Verlauf seines Lebens ein Gespür dafür entwickeln, daß alles Allgemeine eine dumpfe Keule ist, die man sich ständig selbst auf den Hinterkopf donnert. Am Anfang sollte immer ein Vakuum sein, eine Chance, die man dem Speziellen, dem Individuum einräumt, bevor man die Keule auspackt. Ich habe ja auch keine Ahnung davon, wie andere Menschen ihre Karten benützen, aber ich würde nie sagen: „Das ist total veraltet.” Ich würde den Betreffenden höchstens fragen, ob er vorhat, nach Amerika auszuwandern oder dort schon eine Ranch besitzt oder etwas Ähnliches.

So. Jetzt kann von mir aus jeder aufhören, das Buch zu lesen. Solche Sachen, ich meine Erfahrungen, von denen man glaubt, daß sie nicht unbedingt jeder jeden Tag macht, sollte man in Büchern immer an den Anfang stellen, damit auch die etwas davon haben, die nur den Anfang lesen. Wenn ich schreibe, stell ich mir manchmal vor, ich würde hinter mir stehen, mir über die Schulter gucken und mein erster Leser sein. Es gibt viele Bücher, von denen ich nur ein paar Seiten lese. Die ersten drei und die letzte. Wenn es da nicht Rambazamba macht in meinem Hirn, dann lege ich sie zurück. Das ist wie mit Restaurants. Bevor man sich die Speisekarte lang und breit durchsieht, sollte man erst einmal die Toiletten begutachten. Wenn man da kein gutes Gefühl hat, dann ist man meistens auch vom Essen und vom Übrigen enttäuscht. Kann sein, daß das nicht immer hinhaut, ich habe jedenfalls eine gute Quote mit dem System.

Hoffentlich wird meine Geschichte eher so, wie sie Chimo
ge­schrie­ben hätte. Ich meine, ich will ihn nicht kopieren, das wäre
ers­tens blöd und zweitens ohnehin unmöglich, echte Individuen
lassen sich nicht kopieren, nur Bundesgesetzblätter kann man ohne
Verlust in den Kopierer legen. Ich will damit nur sagen, Chimo ist
mir un­heimlich sympathisch. Auch wenn ich ihn wahrscheinlich nie
persönlich treffen werde, mag ich ihn viel lieber, als manche Leute,
die ich sehr oft persönlich treffe oder getroffen habe. Einer von
denen, die ich nicht unbedingt jeden Morgen sehen muß, um froh
zu sein, ist Professor emeritus Bodo Dorn, der Vater meiner
Freundin Eva. Mit ihm, das heißt mit einem typischen Abend bei
den Dorns fängt die Geschichte an.


Lorenz lesen

Abendessen. Die gute Frau Dorn sen. kocht so gut, daß alle andächtig wie in der Kirche um die dampfenden Schüsseln sitzen. Eva lobt ihre Mutter und erklärt lächelnd, daß es angesichts einer solchen Vorgängerin unmöglich für sie sei, auch zu kochen.

„Stell dir vor, dein Vater ist Literaturnobelpreisträger! Könntest du da anfangen, auch Bücher zu schreiben?”

„Warum nicht?” sage ich, und mein Brustkorb zieht sich zu­sam­men. Jedes Mal, wenn mich diese Art von Logik streift, könnte ich losheulen. Das hat jemand anderer schon besser gesagt, also sei still, und die hundert Meter laufen andere viel schneller, also fang gar nicht erst an zu rennen und sitz.


Eva und ich erwägen eine gemeinsame Reise. Um uns auch im Alltag kennenzulernen, wenn der Himmel nicht so vollgestopft ist mit Geigen wie jetzt. Weil Eva in Wien studiert und ich in Linz, sehen wir uns nur alle heiligen Zeiten. Daß wir das ändern wollen, freut die Eltern, weil sie Ernsthaftigkeit lokalisieren. Um die ein wenig zu zerstreuen, erzähle ich von meinem ersten Campingurlaub. Ein Schul­freund und ich in der Wildnis. Damals hatten wir mehr Zahn­pasta eingepackt als Lebensmittel und wären beinahe verhungert. Zwei Skelette, die mit funkelnden Zähnen in einer Höhle hocken.

Evas Vater, Professor Dorn, kann gleichzeitig saugen und beißen. Während er das Eingeweidestück zwischen die Kiefer klemmt, kommt von hinten die Zunge und leckt nach dem Fett. Wir essen Hirn mit Ei. Wenn sie das Herz des Büffels essen, haben Stein­zeitmenschen angeblich vermutet, würden Kraft und Intelligenz des Tieres auf sie übergehen. Das war ein Irrtum, was wir hier und jetzt eindrucksvoll beweisen. Ich frage mich, was mit dem Hirn auf mei­nem Teller gedacht wurde. Ich wage nicht, diese Frage laut zu ste­llen und flüstere Eva ins Ohr. Sie prustet los und wiederholt laut, was mir gerade eingefallen ist. Dann beruhigt sie mich, indem sie meine Hand tätschelt und erklärt, daß Kühe nicht denken, sondern einem Instinkt folgen.

„Lorenz lesen”, sagt Professor Dorn, „das macht Sinn.”

„Eines seiner Tagebücher hab ich schon gelesen”, merke ich an, und daß gerade da so etwas wie Tiercharakter zu dämmern beginnt. Man braucht bloß an jene Stelle zu denken, als Lorenz’ alter Hund
sich wegen eines Irrtums schämt.

„Das ist ja bekannt”, sagt Dorn, „daß alle Professoren im Alter sentimental werden und in ihren Tagebüchern solchen Quatsch ver­zapfen. Die Rückseite des Spiegels lesen, da geht es ans Eingemachte.”

Ein schönes Wort, das Dorn immer wieder verschenkt. Etwas Gemachtes ist noch einmal eingemacht. Ein sozusagen quadrierter Gegenstand mit Hand und Fuß. Für Eva sind solche Gegenstände auch wichtig, aber sie nennt sie anders; doppelt gemoppelt sagt sie und klopft, wenn es geht, auf die Dinge. Etwas ist umso wahrer, je vor­handener und körperlich spürbarer es ist. Am besten und eindrucks­vollsten und wahrsten sind natürlich Schmerzen. Die merkt man sich und nimmt sie wahr, auch wenn sie schon längst abgeklungen sind. Das ist auch der Grund, warum Bauern ihren Söhnen an Grenzsteinen Ohrfeigen geben. Gesunde Watschen nennt man das, weil der Schmerz das kranke Wahrnehmungssystem auf die richtigen Bahnen lenkt. Professor Dorn wäre Bauer geworden, wenn er nicht studiert hätte. Seine unermeßliche Liebe zur Natur, dieses weite Feld, hat er jetzt mit den Rohren seiner Doppelbockbüchsen drainagiert. Professor Dorn spricht nur in der Nennform mit mir. Er kann sich für keine dezidierte Anrede entscheiden.

„Kommen essen”, fragt er an den Abenden, wenn ich seine Tochter abhole, „oder gehen noch fort?”

„Gehen treiben es, wenn die Blätter treiben”, müßte ich ehrli­cherweise antworten. Allein, ich bin zu schwach und habe Mitleid mit dem Schmerzensmann.

„Gehen Kino”, sage ich, und er vergießt sein unbehaustes Lächeln. Ein Mundwinkel nach oben und der andere steil Richtung Erdkern.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und Eva ist noch gar nicht gefallen. Sie hängt irgendwo im Geäst, das ihr Vater ist. Professor Dorn war zeitlebens ein hohes Tier. Man erkennt das auch jetzt noch, nach seiner Emeritierung. Wenn man mit ihm spricht, glaubt man immer an einer Kreuzung zu stehen. Während der Stoßzeit. Du da, er auf der anderen Seite, und gleich schaltet die Ampel um. Es ist eine Frage von Sekunden, bis er weiter rauscht, obwohl er mit Bademantel und ausgeleierten Sandalen bekleidet ist.

Irgendwann zieht es solchen Menschen unweigerlich den Unter­leib weg, hinüber zu neuen, unerhörten Taten, und sie müssen fol­gen. Sie sind so wichtig, daß das mit der Pensionierung eigentlich kei­ne Rolle spielt. Ein neues Geographiebuch für die Oberstufe muß abgesegnet werden. Das Bruttoinlandsprodukt von Rußland ruft auch nach seiner Errechnung.

Dabei gehöre ich noch zu den Privilegierten. Evas Mutter sieht nur mehr Professor Dorns Nase, wie sie am Vormittag im Türspalt erscheint und das kommende Mittagsmahl zu erschnüffeln trachtet. Damit er sein Gesichtsfeld länger als eine Minute auf seine Frau richtet, müßte man ihn flach mit Stricken an den Kühlschrank bin­den. Eva selbst kommt gut mit ihrem Vater aus. Nach jedem seiner Sätze sagt sie: „Ja, aber” und „Schau Papa, das ist so”, weil sie es aufgrund ihrer jugendlichen Frische besser wissen muß. Das sieht Professor Dorn auch ein, weshalb er ihr Studium zahlt, auch wenn es drei Mal länger dauert, als es sollte, was nur logisch ist, weil eigent­lich auch die an der Uni von Eva lernen müßten und nicht umge­kehrt.

Evas Vater ist auch Jäger.

„Das war er schon immer”, betont sie, weil etwas, das lange währt, nur gut sein kann. Mein Kumpel Mike kann das bestätigen. Als er begann Taxi zu fahren, mußte er sein Taxi immer von der anderen Stadtseite holen. Dort wohnte der Fahrer, mit dem er dieses Auto teilte. Mikes Vorschlag, man könnte doch das Taxi in der Mitte der Stadt abstellen, scheiterte auch an der Zeit. „Das hat schon immer bei mir gestanden, seit zwanzig Jahren, das bleibt auch so.”

*

Manchmal jagt Professor Dorn eine Ladung grobkörnigen Schrot aus dem Schlafzimmerfenster, weil er ein Raubtier schleichen sieht. Hier, im Niemandsland zwischen Beton und Acker schleichen die großen, bösen Wölfe zwischen vier und fünf Uhr morgens, solange es richtig dämmert und die Konturen der Tiere wie aufgeschlagene Eier in der Pfanne zerrinnen. Die Detonation läßt das ganze Dornhaus einen halben Meter in die Luft springen. Zum Glück grenzt das Haus mit der Rückseite an einen Waldrand, wo nie jemand ist. Außer ein paar Schafen. Sie gehören dem Hofin­ger­bau­ern, dem Nachbarn der Dorns, der laut Professor ein nicht ganz einfacher Mensch ist. Vor kurzem hat Dorn eines der Tiere mit einer Schrotkugel am Fuß getroffen. Vielleicht haben sich drei Schafe in der Dämmerung zusammengeballt und einen bedrohlichen Eisbären imitiert. Möglich wäre auch, daß sich ein Fuchs hinter einem Schaf versteckt hat. Wirklich ist auf jeden Fall der Gipsklumpen, den der Tierarzt um das Schafbein gewickelt hat. Seither wird es von den jüngsten und den senilsten Schafmännern in der Herde besprungen, weil es nicht fortlaufen kann.

Professor Dorn ist ein Tausendsassa. Wenn er nicht aus dem Fenster knallt oder Schulbücher segnet, studiert er Geschichte. Die Geschichte. Mit Cäsar, Napoleon und Hitler. Das ist mein Stichwort, denk ich mir und beginne zaghaft einzuwenden, daß es noch andere Arten von Geschichte gibt, die der Kindheit, der Frau oder der Arbeit. Ich sage pluralisierend. Papperlapapp sagt Dorn. Und dann: „Der Nürnberger Prozeß, das war was”, und er schmatzt und leckt über das Wort, als wäre Der Nürnberger Prozeß ein Hühnerbein mit knuspriger Haut.

*

Ich bin zu naiv. Solche Situationen begleiten meinen Lebensweg wie Bahnhöfe, an denen ich regelmäßig halte. Das Konservatorium der Stadt Linz war auch so ein Bahnhof. Ich versuchte mich dort an der Geige, was auch mit dem Pflichtfach Viola verbunden war.

„Alle wirklich großen Geiger waren Juden oder zumindest jüdi­scher Abstammung”, habe ich dort aus tiefster Überzeugung ver­kündet, und daß das auch kein Wunder sei bei der Geschichte dieses Volkes, und daß man solche Apokalypsen überhaupt nur auf diesem Instrument annähernd ausdrücken kann.

Diese meine Meinung war kaum verklungen, als mein Pflicht­lehrer Professor Wolfwidukind Kuster beinahe einen Herz­krampf bekommen hätte. Sein Kopf saß wie eine winzige, schiefe Almhütte auf dem Fleischberg, der er war. Das alleine machte ihn schon be­ängsti­gend. Vor allem, wenn man ihn in einer der engen Kon­ser­va­toriumstoiletten traf. Man mußte gleich alle Hoffnung aufgeben, hier seine Geschäfte erledigen zu können. Es war unmöglich, an ihm vorbeizukommen, wenn er sich vor einem Pissoir oder vor dem Händetrockner aufgebaut hatte. Was blieb, war nur die Flucht in ein anderes Stockwerk. Einmal habe ich es trotzdem versucht. Ich mußte schon ziemlich dringend, und er stand vermutlich zum zwei­hundertsten Mal an diesem Tag vor dem kleinen Waschbecken. Ich drückte mich ganz an die Wand und versuchte vorbeizuschlüpfen, hatte aber keine Chance. Ich kam mir vor wie ein Nilpferdbaby. Ich klemmte irgendwo in der Herde zwischen den Arschbacken der Großen.  Irgendwann, nach ungefähr siebzehn Stunden, bemerkte sogar Kuster etwas hinter seinem Rücken. Das war mein Röcheln. Anstatt sich zu entschuldigen oder wenigstens zu staunen, wen er da an die Wand gepreßt hatte, rief er bloß: „Das ist ja allerhand!” Dabei sah er mich an, als ob nicht er, sondern ich siebzig Kilo Übergewicht hätte.

Das alles wäre ja noch halbwegs erträglich gewesen, wenn da nicht regelmäßig im April jeden Jahres Kusters gemeingefährlicher Satz gekommen wäre: „Morgen hat ein großer Österreicher Ge­burts­tag.” Als ich das zum ersten Mal hörte, ging ich in Gedanken die österreichischen Komponisten durch. Nachdem ich nichts gefunden und bloß die Schultern gehoben und nachgefragt hatte, sagte er triumphierend „Der Adolf!” Dabei kicherte er wie ver­rückt, und die Fettringe rund um seinen Hals wabberten wie bei einer nervösen Qualle. Ich habe dann noch eine ganze Weile gebraucht, um alles zu registrieren. Wenn ich mir etwas nicht vorstellen kann, es aber trotz­ dem eine Tatsache ist, dann brauche ich immer ewig, um es zu glau­ben. Wenn ich in dieser Hinsicht etwas schneller gewesen wäre, dann hätte ich das mit den Juden und der Geige vermutlich nicht gesagt. Jedenfalls, nachdem ich mein prächtiges Urteil abgegeben hatte, kam die große Belehrung wie ein Schneesturm über mich. „Die Jurymitglieder aller großen Wettbewerbe sind Juden”, donnerte Kuster, und daß es dann wohl jedem, auch mir, einleuchten müsse, warum nur Juden gewinnen würden. Mir leuchtet auch viel ein in solchen Momenten, wenn die Kusters und Dorns toben, nur eben nicht das, was die Beleuchter wollen.

Wenn ich damals mehr Courage gehabt hätte, dann hätte ich alles liegen gelassen, wäre sofort in die Direktion rübergestürmt und hätte „Kuster ist ein verdammter, alter Nazi” gerufen und „Ich will einen anderen Lehrer!” Natürlich habe ich das nicht getan, und wenn ich ganz ehrlich bin, wahrscheinlich würde ich das heute auch noch nicht zusammenbringen. Ich habe zwar jetzt schon etwas mehr Courage als damals, aber für solche Aktionen ist das, glaube ich, noch immer nicht genug.

*

Menschen mit Courage bewundere ich am meisten. Bewundern heißt für mich: nicht vergessen. Bei den Playmates des Monats ist das anders. Nicht, daß sie mir nicht gefallen, ich seh sie mir gerne an drüben in unserem Supermarkt, wo man gratis lesen kann, zur gro­ßen Freude des Herrn Supermarkt, der sich das wahrscheinlich genauso vorgestellt hat, daß alle mit ihren Einkaufswägelchen stehen bleiben und ein weiteres Eselsohr in die neuen Illustrierten knicken, bevor sie die Hefte wieder zurückstellen. Ich klappe sogar das Falt­bild auseinander, und meistens irritiert mich das angenehm, aber zwei Regale weiter, spätestens bei den Radieschen, habe ich die Models schon wieder vergessen.

Couragierte Menschen vergesse ich lange nicht. Den letzten, das war vor mittlerweile einem knappen halben Jahr, habe ich in Wien erlebt. Es war Herbst, schon kühl, aber nicht kalt. Ich ging von Evas Studentenbude Richtung U-Bahn. Plötzlich bleibt ein Auto so unge­fähr zwanzig Meter vor mir stehen. Es sah aus wie drei aneinander­geschweißte Kleiderschränke, so groß und klobig. Drinnen saß ein distinguierter, älterer Herr mit Hut, Mantel und Lederhandschuhen. Mindestens ein Kommerzialrat, wenn nicht sogar ein echter Hofrat. Während ich auf ihn zusteuerte, kam plötzlich ein schlanker, unge­fähr fünfzigjähriger Mann in kurzen Hosen und einem dünnen Pullover aus dem Hausflur, ging auf das Auto des Kommerzialrats zu und sagte ziemlich laut: „Seien Sie doch so gut und stellen Sie den Motor ab.”

Mir war das noch gar nicht aufgefallen, aber der dicke Kasten­ wagen tuckerte noch immer weiter, obwohl er schon längst in der Parklücke stand. Ich kam jetzt genau an den beiden vorbei und sah, wie kleine Wölkchen aus dem Auspuff rauchten. Der Kommer­zialrat tat so, als ob er den Herrn im dünnen Pullover nicht bemerkt hätte, und gab weiter Standgas. Daraufhin klopfte der Herr im Pullover ans Autofenster, mit einem stark gekrümmten Zeigefinger, der mich irgendwie an den spitzen Schnabel eines Waldspechtes erinnerte, der sich gerade eine Höhle hämmert, so heftig war das Klopfen. Dabei wiederholte er seine Aufforderung. Diesmal war es nicht mehr so nett formuliert.

„Schalten Sie den Motor ab, wenn Sie stehen!”

Der Geheimrat, dem das Ganze jetzt zuviel geworden war, wahr­scheinlich hatte er Angst um das Glas, kurbelte das Fenster ein ganz klein wenig nach unten. In den Spalt hinein zischte er: „Hören Sie, ich warte hier auf jemanden!”

„Das steht Ihnen ja frei”, sagte der andere und beugte sich noch näher an den Spalt heran. „Sie können warten auf wen Sie wollen und solange Sie wollen, nur stellen sie dabei den Motor ab.”

Ich ging wie in Superzeitlupe. Ich wollte alles verfolgen. Solche Momente, wo wirklich etwas geschieht in der Welt, die sind nicht allzu häufig. Der Kommerzialrat wartete - und stellte den Motor nicht ab. Daraufhin zog der Herr im Pullover einen kleinen Notizblock und einen Bleistift aus der Hosentasche, umrundete das Auto und notierte das Kennzeichen. Dann ging er wieder zurück, beugte sich noch einmal über das mittlerweile wieder geschlossene Fenster und rief: „Wenn Sie Ihre Stinkkiste nicht sofort abstellen, hole ich die Polizei! Die sind in zwei Minuten da.”


Als er das sagte, war klar: das war kein Bluff. Da stand einer, der tatsächlich die Polizei rufen und der das Ganze auch durchstehenwürde. Irgendwie schien das auch der Hofrat mitzubekommen. Ohne den Mann mit dem Pullover anzusehen, stellte er den Wagen ab, und die Wölkchen hörten augenblicklich auf, aus dem Auspuff zu blubbern. Der Mann im Pullover drehte um, verschwand im Haus, und ich fand ihn großartig. Besser als jeden Dra­chen­töter. Ist zwar sicher auch nicht leicht, mit einem Schwert auf einen feuerspei­enden Dreitonner loszugehen, aber immerhin be­kommt man nach­ her das halbe Königreich und eine Prinzessin. Der Mann im Pullover hat aber gar nichts bekommen, und trotzdem war er in der Höhle des Kommerzialrats eingelaufen, noch dazu in kurzen Hosen.

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So ist das immer, wenn ich schreibe: ich fange bei A an und plötz­lich bin ich bei Ypsilon und hab alles dazwischen übersprungen. Dabei soll man ja laut irgendeinem Romanplan Personen aufbauen, die dem Leser ans Herz wachsen, und solche, die er verdammen kann, ohne das jemandem laut sagen zu müssen. Aber wenn ich ehrlich bin: von allen Menschen, die mir in diesen zwei Jahren bege­gnet sind, seit ich begonnen habe alles aufzuschreiben, habe ich nur ein paar gerne gehabt, zwei sogar sehr, aber wirklich geliebt habe ich keinen. Das ist erst jetzt gerade passiert, jetzt, wo ich dasitze und alles zum dreihundertsiebenundzwanzigsten Mal durchlese und da und dort etwas einfüge oder wegschnipsle, aber nur mehr Kleinigkeiten.

Egal, wie fröhlich man sich gebärdet und wieviel man zwischen Büchern, CDs und netten Menschen herumhopst, es gibt einen Bereich des Ichs, da kann nur dein seelenverwandter Mensch das Licht anknipsen. Jeder trägt die ewig dunkle Rückseite des Mondes in sich, aber wenn der Mensch auftaucht, der eine und einzige, dann schießt dich das aus deiner Umlaufbahn und du flatterst kreuz und quer durch die Galaxie, wie ein Luftballon mit einem Loch drinnen, aber die Luft geht dir trotzdem nicht aus, im Gegenteil: du wächst und wächst, solange bis du vor Freude platzt.

Außerdem geht’s mir immer noch wie diesem Zauberlehrling. Während ich eine Geschichte schreibe, passieren schon zwei neue, und kaum schreibe ich die zweite, sind’s schon vier. Die Geschichte der Menschheit ist ein Fluß, und das zwanzigste und einundzwanzig­ste Jahrhundert, das sind die Stromschnellen. Keiner weiß, ob’s nachher wieder gemächlich wird oder ein Wasserfall kommt. Die Welt rauscht vorbei. Ich klammere mich an jeden Stein. Das dauert aber höchstens ein paar Minuten, dann spült mich die Strömung mitsamt dem Stein und meinem Notizblock wieder weiter fort.

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Mike hat einmal gesagt: „Das ist eine Sache zwischen dir und Eva. Und sonst niemandem.” Ich halte viel von dem, was Mike sagt, vor allem von seinen Gedichten, die er jetzt nicht mehr schreiben kann, wo er Besoffene kutschiert. Aber hier irrt er sich. Man kann keine Freundin haben ohne ihren Vater und ihre Haustiere. Diese Karawane folgt. Auch wenn sie nur selten zu sehen ist, lauert sie doch beständig hinter der nächsten Bergkuppe. Wenn deine Freundin einen Dobermann hat, der dich bei jedem Besuch von oben bis unten vollsabbert, dann mußt du ihm trotzdem die Lefzen kraulen. Das gilt auch für den Vater. Nur, bei ihm ist das schwieriger. Ich weiß langsam nicht mehr, was ich mit Professor Dorn sprechen soll. Er ist ein unterirdischer Fluß, der beständig zu mir heraufdonnert. Egal, was ich ihm zuschreie, es geht alles unter in diesem unbeirrba­ren Grollen.

Frau Dorn geht es ähnlich. Obwohl sie nicht mehr die Jüngste ist, läuft sie oft und schnell in die Gassen des akademischen Ehemannes. Niemand weiß vorher die genauen Laufzeiten, aber das Essen ist und bleibt ein guter Termin.

„Nicht soviel”, krächzt der Professor gerne, „wer soll denn das essen?” Schuldbewußt schaufelt sie zwei dicke Kartoffeln zurück in den Topf. Jetzt paßt es. Vor einer Woche, als ich zum letzten Mal hier gewesen bin und eine ähnliche Menge am Teller lag, ist ein anderer Satz gekommen: „Ich soll wohl verhungern?”

Die beiden Sätze wechseln einander ab. Sie sind die Gasse, in die Frau Dorn regelmäßig läuft. Irgendwo in diesem Haus wird auch für mich eine Gasse gebaut. Ich spüre das. Wenn sie fertig ist, werde ich ahnungslos hineinzappeln und am anderen Ende werden kleine Dorns herauspurzeln, in einen großen Korb, den der Professor selbst dort untergestellt hat.

Im Salzkammergut hat der Professor eine Jagdhütte, in einem Wald versteckt. Und ein zweites Haus mit Katakomben und Stern­warte gibt es laut Eva auch irgendwo. Der Professor fragt sich ins­geheim, warum ich in Anbetracht solcher Aussichten nicht zumin­dest manchmal einen Purzelbaum vor ihm schlage oder Rosen­blätter auf sein schütteres Haupt streue.

Wenn eine Frau mehr als 200 Hektar Grund in die Ehe mitbringt, braucht sie ihrer Heiratsannonce kein Bild mehr beizulegen. Das war ein beliebter Scherz in unserer Schule, den Dorn gut kennt. Er lacht zwar jetzt nicht mehr, weil er der Emotion als solcher zusehends mißtraut, aber er kann nicht umhin, mich vorwurfsvoll anzusehen. Den Blick kann er mir nicht ersparen. Beim besten Willen nicht.

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Nach dem Essen wandern alle bis auf Frau Dorn ins Wohn­zimmer. Weil dieser Haushalt ein intellektueller ist, was man deutlich am Raum erkennt, den die Bibliothek in Anspruch nimmt, wird hier oft philosophiert. Das kann nämlich jeder mit einer großen Bibliothek, und es spielt keine Rolle, ob man diese Bibliothek auch benützt, denn letztendlich ist die Philosophie eine Sache, die aus dem Bauch kommt, die sich bei großen Geistern sozusagen automa­tisch und notwendig aufdrängt, wie das Gas eines Rülpsers, das sich auch aufdrängt und nach außen will, und weil alle Sätze, in denen nicht ein Besenstiel oder ein Mostobstbaum vorkommen, sowieso an sich philosophisch sind.

Professor Dorn sitzt uns links gegenüber und Eva auf meinem Schoß. Das gefällt mir, weil ich ihre warmen Pobacken spüre und jetzt kommen kann, was da will. Frau Dorn hört vermutlich von der Küche aus zu. Manchmal gibt sie Geräusche von sich, die alle so klingen, als würde sie mit einem kleinen Schlägel auf einen ihrer Töpfe schlagen. Man weiß nie, ob sie da draußen einen schwierigen Rhythmus probt, oder ob sie ihre Wahrnehmungen bis ins Wohnzimmer hineinbiegt. Sie hat zwar einen titanischen Geschirrspüler, der das alles hinter verschlossenen Türen macht, was sie früher Stunden gekostet hat, aber irgendwie ist immer noch etwas in der Küche zu tun.

Ob es je Zivilisationen gegeben hat, die ihre Errungenschaften nicht dazu benutzt haben, um in die gewonnene Zeit wieder neue Arbeit zu stopfen? Ich hätte gerne, daß irgend jemand einen Geschirrspüler durch ein Zeitloch in die Steinzeit zurückschickt. Bis das geschieht, muß ich mich an Evas Pobacken klammern, wie an Rettungsringe und mit den Dorns im Wohnzimmer sitzen, auf den großen Polstermöbeln, und beratschlagen, ob es auf dieser .....