Die Kieberer, die Wohltäter und das Laster - Siegfried Wagners erster Fall von Ingo Klausenburg

 

Siegfried Wagner ist Macho und Major der Wiener Polizei.

 

 

 

 

Der Polizei und allen WohlTäterInnen
in diesem Lande in tiefer Dankbarkeit gewidmet

 

 

 

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sollten sich dennoch
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
finden, so sind diese zwar zufällig, aber unvermeidlich.
 

 

Ein Tag, der morgens beginnt,
kann nicht mehr gut werden

E. Hemingway

 


Er hatte wirr geträumt, konnte sich beim Aufwachen Samstag Früh aber an keine Details erinnern. Real waren nur der dumpfe Schmerz hinter der Stirn und die Übelkeit. Nur nicht speiben. Wenigstens kam frische Herbstluft durch die geöffneten Schlafzimmerfenster seiner geräumigen Altbauwohnung im neunten Wiener Gemeindebezirk. Die Wohnung war für einen Polizisten, dazu noch einen alleinstehenden, vielleicht etwas untypisch möbliert. Wagner liebte skandinavische Designermöbel, insgesamt war die Einrichtung eher sparsam – seine Kollegen meinten karg. Wagner sah darin den notwendigen
Gegenpol zu seiner eher barocken Lebensweise.

Siegfried Wagner, Major bei der Wiener Kriminalpoli­ zei, genauer beim EB 1 – Leib und Leben –, sah auf die Leuchtanzeige seines Radioweckers: fünf Uhr.

Es war gestern Abend wieder einmal spät geworden beim Griechen am Judenplatz, einem seiner Lieblings­ lokale. Das Essen war wie immer ausgezeichnet gewesen und der Wein auch. Wein aus Kreta. Eigentlich bevorzugte er Wachauer Rieslinge und Champagner, aber er war vielen Genüssen gegenüber offen und die Tropfen von Lyrarakis oder Dourakis waren wirklich gut. Wollte er sich merken.

Einschlafen würde er so schnell nicht wieder.

Es war eine Einladung gewesen. Vom Griechen, einem Freund, oder besser gesagt Bekannten, der seine kulinarische Schwäche kannte. Eine Schwäche, die er mit Wiens Polizeipräsidenten Pürzl teilte, was bisweilen zu scheinbar vertraulichen Gesprächen mit diesem über Wein und Essen führte. Seine unmittelbaren Vorgesetzten und Kollegen beobachteten dies misstrauisch: ein direkter Draht nach oben?

Eigentlich hätte Wagner die Einladung zum Essen nicht annehmen dürfen, da sie streng genommen mit seiner Tätigkeit bei der Kriminalpolizei zu tun hatte. Er wusste, dass seinem Gönner, der über einige Kontakte zu Halb- und Unterwelt verfügte, die fast freundschaftliche Bekanntschaft zu einem der leitenden Beamten im EB 1 die eine oder andere Einladung wert war. Auch wenn sie für diesen noch keinen konkreten Nutzen hatte. Aber wer weiß schon, was die Zukunft bringt.

So genau nahm es Major Wagner, den seine Kollegen natürlich Siggi nannten, nicht. Und seine Vorgesetzten würden es nicht erfahren, so hoffte er wenigstens. Andererseits war er einige Male bei anstehenden Beförderungen nicht zum Zuge gekommen, obwohl er recht erfolgreich und an der Aufklärung durchaus spektakulärer Fälle zumindest maßgeblich beteiligt war. Aber Unsinn. Wenn man ihm etwas vorzuwerfen hätte, würde man es
ihn auch offiziell wissen lassen. So gut kannte er den Verein nach nun fast 20 Jahren Dienstzeit.

Und dann kamen doch noch mehr Erinnerungen an den vergangenen Abend in sein immer noch vom Alkohol leicht umnebeltes Gehirn: Er war ja nicht alleine beim Griechen gewesen. Evelyne, seine derzeitig unumstrittene Favoritin, hatte ihn begleitet. Wohl – zumindest nach derzeitigem Stand der Dinge – gewesene Favoritin. Eine äußerst unschöne Szene hatte es gegeben. Und recht lautstark war es zwischen ihm und Evelyne auch geworden. Die anderen Gäste im Lokal waren schon aufmerksam geworden. Und der Wirt, Adonis, hatte sie gebeten, den Streit etwas leiser auszutragen.

Peinlich. Was war der Grund für den Krach gewesen? Jacqueline, die Vizin – wie er sich wenig frauenfreundlich auszudrücken pflegte. Evelyne hatte von ihrer Existenz, wie auch immer, Wind bekommen. Und Vorwürfe hatte sie ihm deshalb gemacht. Einen Harem könne er sich halten, wenn er wolle. Aber nicht mit ihr. Ein Macho sei er, und zwar einer von der ganz üblen Sorte.

Und so hatte ein Wort das andere gegeben. Krisenbewältigung Fehlanzeige. Widerwärtiges Luder war das Letzte, was er ihr ziemlich laut an den Kopf geworfen hatte. Und das war es dann gewesen. Abtritt Evelyne – würde man im Theater sagen. Und der erhoffte Ausklang des Abends oder besser frühen Morgens bei Evelyne hatte sich erledigt. Ihre subtilen Praktiken im Bett, die ihm regelmäßig unerwartete Höhepunkte brachten, blieben Wunschvorstellung.

Apropos subtile Praktiken: Natürlich war Wagner nicht der Einzige, der in den Genuss der Kunststückchen kam. Aber das wusste nur Evelyne. Und sie entschied, mit wem sie sich ihre Männer teilte, Harem unter verkehrten Vorzeichen sozusagen. Besser, dass Wagner davon nichts ahnte. Es hätte seinem Ego und Weltbild mit klaren Rollenverteilungen, was Männer und Frauen anbelangte, einen herben Schlag versetzt. Und das wollen wir unserem Helden doch ersparen. Vorerst wenigstens.

Blieb derzeit also nur noch die Vizin, Jacqueline. Leider nicht ganz so talentiert. Aber besser, den Spatz in der Hand ...

Mehr Sorge als diese doch sehr unerfreuliche Sache bereitete ihm aber sein momentaner Zustand. Alles andere würde sich irgendwie regeln lassen. Hatte doch meistens ganz gut funktioniert.

Ein Schluck Wasser wäre gut. Er hatte es wieder einmal versäumt, sich Wasser für die Nacht ans Bett zu stellen. Und aufs Klo musste er auch. Also auf ins Bad.

Beim Aufstehen wurde ihm etwas schwindlig. Nun ja, alles hat seinen Preis. Im beleuchteten Badezimmerspiegel sah er sein trotz des angeschlagenen Zustandes noch recht jugendliches Gesicht. Für fast 40 ganz zufriedenstellend. Die (für einen Polizeibeamten, wie seine Chefs meinten) ziemlich langen, immer noch fast schwarzen Haare trug er normalerweise leicht gegelt und zurückgekämmt. Nun hingen sie etwas wirr nach unten. Über eins achtzig groß und dank regelmäßiger Besuche im Fitnessstudio des Polizeisportvereins einigermaßen schlank, wirkte er fast sportlich. Besonders stolz war er immer
noch auf seine für einen Mann überaus wohlgeformten Beine, für die ihn manche Damen anhimmelten. Ein zaghaft beginnender Bauchansatz beunruhigte ihn noch nicht – und die zahlreiche weibliche Bekanntschaft, derer er sich erfreute, offenbar auch nicht.

Jetzt, Anfang Oktober, war er immer noch sonnengebräunt. Folge der zahlreichen Segelausflüge, die er in seinen freien Stunden auf dem Neusiedler See unternahm. Manchmal erforderten auch seine Ermittlungen solche Ausflüge. Um die aufzuklärenden Fälle aus einer anderen Perspektive zu sehen. So beurteilte zumindest er diese Extravaganzen. Das Segelboot gehörte einem Freund, oder besser Bekannten, dessen Motivation für die Großzügigkeit ähnlich wie im Falle des griechischen Lokals gelagert war. Aber wie schon erwähnt, so genau sah es Wagner nicht. Und seine Erfolge verdankte er nicht
zuletzt auch diesen Verbindungen. Und wirkliche Dienstgeheimnisse zu verraten käme ihm niemals in den Sinn.

Sein Motto lautete: Wer immer korrekt ist, wird kaum Erfolg haben, und nur wer ein guter Gauner wäre, kann auch ein guter Ermittler sein. Man muss nur auf der richtigen Seite sein.

Nachdem er zwei Becher Wasser mit einer Kopfschmerztablette getrunken hatte, verbesserte sich sein Zustand merklich. Vielleicht sollte er es zumindest doch noch für zwei, drei Stunden mit Schlafen versuchen.

 

Alte Menschen werden oft durch Geld
anziehend und liebenswert

A. Smith
 

Plötzlich riss der Signalton des Smartphones Siegfried Wagner aus seinen Betrachtungen. Das Jägermotiv aus Webers Freischütz. Bei seinen Kollegen löste sein Klang immer Heiterkeit aus. Er aber fand es passend für einen, der Verbrecher jagt und sich auch im Hinblick auf die Damenwelt öfter auf der Pirsch befand.

Seufzend wischte er über das Display. Eigentlich konnte es nur dienstlich sein. Fremde oder Bekannte riefen so früh nicht an und seine Verehrerinnen befanden sich um diese Uhrzeit entweder in seinem Bett oder belästigten ihn nicht am Telefon.

„Ich bin es, Otto“, meldete sich etwas aufgeregt Otto Dorazil, sein geschätzter und zuverlässiger Mitarbeiter. Nach Wagners Meinung ließ es der eifrige Heurigenbesucher und enthusiastische Radio Burgenland-Hörer Dorazil bisweilen an der nötigen Lässigkeit und Kreativität fehlen. Trotzdem schätzte er Otto wegen seiner zuverlässigen und bodenständigen Art sehr. Otto gab am Handy atemlos eine kurze Schilderung des Sachverhalts:
„Raubüberfall. Üble Sache, sieht nicht gut aus, die arme, alte Frau!“

„Otto, ich bitte dich, komm zur Sache! Erzähl mir kurz und knapp, was passiert ist“, unterbrach Wagner den zu einer langatmigen Erklärung ansetzenden Otto.

„Ist ja gut, Siggi! (Wagner liebte es überhaupt nicht, Siggi genannt zu werden. Aber immer noch besser als das infantile Siggilein mancher Verehrerinnen.) Eine alte Dame ist auf dem Nachhauseweg vom Burgtheater auf der Straße vor ihrem Haus in der Schottengasse niedergeschlagen und vermutlich ausgeraubt worden. Hat eventuell einen Schädelbruch und es besteht Lebensgefahr. Ich hole dich sofort ab.“

„Gib mir bitte zehn Minuten zum Anziehen“, erwiderte Wagner und unterdrückte einen herzhaften Fluch. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte er. Alle Pläne dahin.

Es war Samstag. Zwar hatte er ab Mittag Bereitschaftsdienst, aber innerlich doch gehofft, von Einsätzen verschont zu bleiben. Später hatte er sich mit Evelyne, seiner derzeitigen Favoritin, besser gewesenen Favoritin, treffen wollen und sein einfaches, oft bewährtes Programm klar vor Augen gehabt: kleines Mittagessen in einem italienischen Lokal in der City. Nur ein, zwei Achterl – auch, aber nicht nur wegen der Bereitschaft. Und dann in Evelynes tolle Wohnung im zweiten Bezirk. Na ja, und dann. Alles dahin, wieder einmal.

Dieses Mal in doppelter Hinsicht. Blieb die Vizin. Muss mich noch bei ihr anmelden, wird sicher sehr erfreut sein.

Obwohl er mit Leib und Seele Polizist war, dachte er in diesen Situationen manchmal an ein beschauliches Leben als Beamter bei der Wiener Stadtverwaltung – so wie es sich seine Eltern für ihn vorgestellt hatten. Wahrscheinlich tödlich langweilig. Solche Gedanken waren deshalb auch nur von sehr kurzer Dauer.

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