Einzelkind - Privileg oder Schicksal von Dr. Norbert Arlt

 

Das verwöhnte Einzelkind wird meist beneidet und doch ist man unsicher, ob wirklich alles nur von Vorteil ist für diesen Menschen.

Kein Buch kann jemals fertig werden;
während wir daran arbeiten, lernen wir immer gerade genug, um seine Unzulänglichkeit
klar zu sehen, wenn wir es der Öffentlichkeit übergeben.“
Sir Karl Popper

Danksagung

An meine Klientinnen und Klienten, die mich so viel über das Schicksal der Einzelkinder gelehrt haben. An meine Frau, Psychotherapeutin wie ich, die mir unbeschreiblich viele interessante Ideen und Hinweise geliefert hat. Dank an Peter Melzer und meinen ältesten Freund Manfred, die dieses Buch kritisch und beratend angesehen und mir bei der Gestaltung des Buches geholfen
haben.
Ganz besonders meiner Lektorin Hermi Bader, die das Buch in liebevoller Kleinarbeit in die vorliegende Gestalt gebracht hat.

Hinweis

Alle Namen und Lebensgeschichten sind so verändert, dass Rückschlüsse auf reale Personen nicht möglich sind.
Im Sinne einer guten Lesbarkeit wurde auf die heute übliche Schreibweise KlientInnen, TherapeutInnen usw. verzichtet, es mögen sich aber bitte jeweils weibliche wie männliche Personen angesprochen fühlen.

Ein Kind - ein Rohdiamant
Für die, die nicht das ganze Buch lesen wollen

„Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer.
Später zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder Kostüme wechseln, wie er will.“
Heimito von Doderer

Das verwöhnte Einzelkind wird meist beneidet - und doch ist man unsicher, ob für diesen Menschen wirklich alles nur von Vorteil ist.

Es bekam die ganze Liebe seiner Eltern und musste sie nie mit Geschwistern teilen. Es bekam beim Essen das erste und schönste Stück. Natürlich wurden ihm am Sonntag die Wünsche von den Augen abgelesen. Mit niemandem musste es sich streiten, wer das größere Stück der Schokolade bekommt, wer in der Badewanne die rutschige Seite und wer den Knopf im Rücken hat, und ob der Kindersitz im Auto der Eltern eine gute Aussicht bietet. Niemals musste es neidisch zuschauen, wie ein weinendes oder krankes Geschwisterchen getröstet und somit für kurze Zeit ihm vorgezogen wurde.
Niemals musste es die abgelegten Kleider anderer Geschwister tragen, niemals das alte Paar Ski und das alte Dreirad übernehmen. Das Kinderzimmer wurde nach seinen Vorstellungen gestaltet und kein lästiger Bruder und keine lästige Schwester redeten ihm drein. Ausrüstungen für die Schule oder den Schikurs waren kein Problem. Schließlich ließen sich die Eltern nicht lumpen.
Vor Freunden und Verwandten wurden seine Vorzüge in höchsten Tönen gelobt. Bei Spielzeug und Kleidung spielte Geld meist keine große Rolle.
Hatten die Eltern Gäste, saß man mit bei Tisch und gab auch weise Sprüche von sich.

Ist vielleicht etwas daran, wenn es heißt: „Alles, was ein Vorteil ist, ist auch ein Nachteil“? Je mehr Vorzüge man aufzählt, umso trauriger und nachdenklicher wird man.
Woran liegt das?

Wahrscheinlich können Sie viele Inhalte dieses Buches in anderen Zusammenhängen und in anderen Veröffentlichungen ebenso lesen. Hier soll der Versuch gewagt werden, viele Nöte und Probleme von Einzelkindern darzustellen.

Die Beschreibungen in diesem Buch sind wie eine Perlenkette bekannter Phänomene, aufgefädelt am gemeinsamen Faden des Kindes ohne Geschwister.

Sie zeigen, dass das Einzelkind, das meist als verwöhnt, verhätschelt und somit als absolut egozentrisch verunglimpft wird, vielleicht ein großes Schicksal trägt, nämlich die Wucht, alle elterlichen Bedürfnisse und alle elterlichen Probleme allein aushalten und austragen zu müssen.

Freilich könnte man auch Schicksale von Kindern beschreiben, die einen Bruder oder eine Schwester haben, mit allen Differenzierungen, ob sie als Ältester, Jüngster oder gerade „in der Mitte“ aufwachsen.

Es macht auch Sinn zu überlegen, was es heißt, als Bub nur mit Schwestern, als Mädchen nur mit Brüdern aufzuwachsen und, und, und ...
In diesem Buch ist das Schicksal des Einzelkindes das Thema.

Falls Sie selbst Eltern eines Einzelkindes sind, wird Ihnen dieses Buch vielleicht Schuldgefühle machen. Schuldgefühle helfen aber nicht weiter. Lesen Sie es so, als wären Sie selbst ein Einzelkind. Es gibt sicher Aspekte, wo Sie es waren. Nur wenn Sie Ihr eigenes Schicksal aufarbeiten, helfen Sie Ihrem Kind und verhindern, dass Sie eigene Wunden an Ihr Kind weitergeben.
Vielleicht hilft es Ihnen auch, wenn ich bekenne, dass ich gerne all das damals schon gewusst hätte, als meine Kinder noch klein waren. Aber es ist, wie es ist. Jeder von uns hätte es gerne besser gemacht, wenn er es gekonnt hätte. Und das Gleiche gilt für unsere Vorfahren.

Bei Jill Pitkeathley und David Emerson wird ein Einzelkind zitiert: „Ich möchte nicht wieder als Einzelkind zur Welt kommen, ich würde es keinem wünschen. Ich sage nicht, dass es schrecklich ist. Das war es nicht. Ich wünsche nur, dass ich früher erkannt hätte, was es bedeutet.“

Ein Briefwechsel

Liebe Helga!
Du weißt, ich liebe Dich und ich kann ohne Dich nicht sein. Du willst, dass wir uns zum Wochenende treffen. Nun, ich weiß noch nicht, wie ich es einrichten kann, denn meine Eltern sind gewohnt, dass ich zum Mittagessen erscheine.

Es gibt wie jeden Sonntag Schnitzel mit Erdäpfeln. Sie reden immer davon, ob ich schon eine Freundin habe. Wie gibt es das, dass ich irgendwie ein schlechtes Gewissen habe, Dich meinen Eltern vorzustellen? Sie wollen doch mein Glück - ja ganz bestimmt! Von Woche zu Woche zögere ich es hinaus, Dich einmal zu meinen Eltern mitzunehmen. Sie wünschen sich doch, dass
auch ich glücklich werde. Irgendetwas ist da komisch.
Nächsten Sonntag werde ich es ansprechen - ja, verlass Dich darauf. Wieso bekomme ich Herzklopfen, wenn ich das schreibe? Ich kenne mich nicht aus.
Ich weiß auch nicht, wann ich wegkomme vom sonntägigen Schnitzelessen.
Schließlich haben meine Eltern nur mich. Das gibt mir schon auch irgendwie ein Gefühl von Wichtigsein und gleichzeitig ein Gefühl von „Scheiße“.
Helga, es wird doch wohl eine Lösung für uns geben?
In Liebe Dein Hans


Lieber Hans!
Zum Wochenende mache ich auch gerne etwas mit meinen Geschwistern.
Fad wird mir ganz bestimmt nicht, auch wenn ich traurig bin, Dich nicht zu sehen. Eines verstehe ich nicht. Meine Eltern haben sich immer gefreut, wenn ich ihnen einen netten Burschen vorgestellt habe. Mir selber war auch immer ganz leicht ums Herz dabei.
Deinen Brief verstehe ich nicht.
Ich umarme Dich Helga

Liebe Helga!
Es wurde sonntags doch recht spät. Meine Eltern sprachen kein Wort davon,
ob ich etwas vorhätte. Ich glaube, es war ihnen ganz selbstverständlich, dass
ich den ganzen Nachmittag bei ihnen bleibe.
Ich kann es nicht beschreiben. Es zerreißt mir das Herz und ich weiß nicht,
was los ist. Sie sind so arm, wie könnte man sie allein lassen?
In Liebe Dein Hans


Lieber Hans!
Weißt Du Hans, meine Eltern haben eigene Ideen, was ihnen Spaß macht und was sie vorhaben. Sie freuen sich auch, wenn ich komme, aber ich weiß, dass ihnen nicht langweilig wird, wenn ich gehe. Ich verstehe gar nicht, was Du mit Deinen Eltern hast. Haben die kein Eigenleben? Haben die nur Dich und sonst nichts? Ist das Liebe oder Dummheit, Lebensunfähigkeit und Egoismus? Haben Deine Eltern Dich ins Leben gesetzt, um durch Dich von ihrer Unerfülltheit erlöst zu werden? Bist Du das Faustpfand Deiner Eltern und Du musst ihnen Lebenssinn geben?
Du bist ein netter Kerl, aber aus uns wird nichts. So stark wie Deine Eltern werde ich nicht sein.
Ich wünsche Dir alles Gute für Dein weiteres Leben.
Ich umarme Dich zum letzten Mal Helga

Hans ist traurig, er versteht nicht, wieso die Liebe seiner Eltern und Helgas Liebe nicht unter einen Hut zu bringen sind. Im Augenblick versteht er überhaupt nichts, auch nicht, was Liebe sein könnte. Hans sitzt in seinem Kämmerchen, erlebt eine eigenartige Mischung aus wohlig-warm und traurig und summt ein Lied. Es ist ihm nicht bewusst, welcher Text zu dieser Melodie gehört. Würde er es wissen, die Musik würde ihm im Halse stecken bleiben.
Er singt:
„Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinein, Stock und Hut steh’n ihm gut, ist gar wohlgemut.
Doch die Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr, da besinnt sich das Kind, kommt nach Haus geschwind!“

Respekt für Eltern

„Es gibt nichts, das höher, stärker, gesünder und nützlicher für das Leben wäre
als eine gute Erinnerung aus der Kindheit, aus dem Elternhaus.“
Fjodor M. Dostojewski

Viele psychologische Bücher, Vorträge und Medienbeiträge sind so angelegt, dass sie in Eltern ein schlechtes Gewissen erzeugen. Die Fülle an Möglichkeiten, es verkehrt zu machen, ist unendlich groß. Veröffentlichungen bohren dann säure- und giftversprühend in den Wunden der leidgeplagten Eltern.
Wenn man davon ausgeht, dass Kinder zu erziehen das vielleicht Verantwortungsvollste und Schwierigste auf der Welt ist, dann wird schon spürbar, dass uns dieses Thema unter den Nägeln brennt. Kinder haben erst in letzter Zeit durch die Popularität der Psychologie eine Lobby bekommen und die prügelt auf die Eltern ein. Nun, bei der verantwortungsvollsten und schwierigsten Sache der Welt bekommen Fehler ein gravierendes Gewicht.

Kunstfehler von Ärzten haben oft grausame Auswirkungen. Irrtümer der Schuhverkäuferin hingegen nicht. Daher steht der ärztliche Irrtum morgen in der Zeitung und bekommt Raum in allen Medien. Die zwei linken Schuhe, die mir irrtümlich eingepackt wurden, aber nicht. Wir sollten so fair sein wahrzunehmen, dass Ärzte, Eltern, Politiker, Priester, Journalisten usw. öfters kritisch gesehen werden, nicht weil sie schlechtere Menschen sind, sondern weil sie die viel größere Verantwortung haben.

Ich schlage vor, dass wir allen diesen Menschen Anerkennung zollen, dass sie diese undankbaren Aufgaben auf sich nehmen und jeden Tag riskieren, herber Kritik ausgesetzt zu sein.

Also an dieser Stelle Respekt für Eltern: Sie geben Zeit, Geld und Nerven für die nächste Generation. Ich sage ganz bewusst nicht, sie opfern, denn sie bekommen auch viel. Ein Lächeln, das erste „Mama“ und „Papa“, Schmunzeln über neue Wortschöpfungen und viele, viele nette Stunden beim gemeinsamen Spiel und beim Zusammensein. Aber Eltern geben auch viel. So manche Mutter und so mancher Vater waren schon neidisch, als ihnen Kollegen vom Wochenende in Istanbul erzählt haben, während sie am Krankenbett eines Kindes gesessen sind. Nehmen Sie bitte dieses Buch, auch wenn es elternkritisch geschrieben ist, als Respekt und Anerkennung einer schwierigen Sache, einem Balanceakt zwischen zuviel und zuwenig, zwischen zu nachgiebig und zu streng, zwischen Verwöhnung und Härte, zwischen gut gemacht und Fehlern.

Es fängt schon damit an, dass es nicht immer wirklich so ganz klar ist, wann man von einem Fehler sprechen soll oder kann. Gehen Eltern mit ihren Kindern ins Museum, finden die Kinder es lähmend fad. Machen sie Wanderungen, empfinden sie es als spießig. Machen sie nichts, bekommen die Erzieher dafür Schelte. Wie immer, wenn etwas neu ist, ist es noch nicht ausgewogen.
Neu ist, dass Kinder ein Sprachrohr bekommen haben und das wird jetzt reichlich genützt. Auch dieses Buch soll Kindern und dem Kind in uns eine Sprache geben.

Lesen Sie es bitte als Betroffene oder Betroffener. Schuldgefühle helfen nicht. Sie haben viel falsch gemacht, natürlich, ich auch. Sollten Sie aber Göttlichkeitsansprüche haben, also davon ausgehen, andere machen Fehler, Sie aber natürlich nicht, dann, so glaube ich ganz fest, lesen Sie dieses Buch ohnehin nicht.

Liebe Leserin, lieber Leser, liebe gewöhnlich Sterbliche, wir sind Suchende und Irrende unter uns. Vielleicht hilft uns Johann Wolfgang von Goethe weiter:

„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!“

Auch Goethe geht nicht davon aus, dass wir es ganz richtig machen können - wir können uns nur strebend bemühen.

Viele Eltern wünschen sich sehnsüchtig Enkelkinder. Manchmal frage ich mich, warten sie wirklich auf den Nachwuchs oder warten sie darauf, dass ihre Kinder endlich aufhören sie zu kritisieren, weil sie erkennen müssen, dass auch sie es nicht perfekt schaffen, jetzt wo sie selbst Kinder aufziehen?
Aber gehört wirklich alles in die elterliche Verantwortung? Was ist mit den Diagnosen wie z. B. Autismus, Rett-Syndrom, Asperger-Syndrom, hyperkinetische Störung usw.? Gibt es nicht auch wirklich das schwierige Kind, das zum Schicksal seiner Eltern wird? Sophie Freud, die Enkelin von Sigmund Freud, hat auf einem Psychotherapiekongress in Wien ein Referat gehalten über „Das schwierige Kind“ und hinterließ auch das Bonmot: „So mancher kann sagen: Meine Kindheit haben meine Eltern ruiniert und mein späteres Leben meine Kinder!“

Dieser Respekt vor Eltern soll und darf uns nicht hindern, auf die Ungereimtheiten hinzuschauen, wahrzunehmen, dass es auch ganz anders sein kann.
Aber hier noch einmal die ganz dringende Bitte: Schauen Sie auf Ihre Kindheit. Je besser Sie die eigene Geschichte klären, je mehr Sie sich die eigenen Wunden ansehen, umso mehr helfen Sie Ihren Kindern, denn Sie entlasten sie, die Schmerzen der elterlichen Verletzungen mit Ihnen teilen zu müssen.