Frag Jesper Juul - Gespräche mit Eltern von Jesper Juul und Pernille W. Lauritsen

 

Alltagsleben in der Familie

 

 

Jesper Juul

wird seit 1995, als er das in Dänemark am häufigsten verkaufte Buch über Kinder, „Das kompetente Kind“, schrieb, als einer der führenden skandinavischen Familien- und Kindertherapeuten betrachtet. Seitdem hat er eine Reihe beliebter Bücher zum Thema Familienleben herausgebracht. 2003 gründete er familylab International, das in 9 europäischen Ländern zahlreiche Seminare anbietet. Lesen Sie mehr über Jesper Juuls Theorien und familylab auf Seite 137 oder im Internet auf jesperjuul.com, familylab.at, familylab.de und family-lab.com

Pernille W. Lauritsen

ist professioneller Coach und arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt mit Familien und Führungskräften. Sie ist Präsidentin der International Coachfederation (ICF) in Dänemark und Mitbegründerin des anerkannten „Mindjuice“ Coaching Institutes, das für seine fundierten Coaching-Programme in Dänemark und Kalifornien bekannt ist. Mehr dazu erfahren Sie auf mindjuice.dk.

Bücher von Jesper Juul

Nein aus Liebe
Die kompetente Familie
Was Familien trägt
Aus Erziehung wird Beziehung
Vom Gehorsam zur Verantwortung
Was gibt’s heute?
Unser Kind ist chronisch krank
Das kompetente Kind
Grenzen, Nähe, Respekt

DVDs/CDs

DVD Pubertät ist eine Tatsache keine Krankheit
DVD Wenn Kinder Jugendliche werden
DVD Was erzieht wirklich?
DVD Erziehen mit Herz und Hirn
CD Nein aus Liebe
DVD Invitations and Integrity

Wir führen das gesamte Programm!


Inhalt

  7  Vorwort
 11  Erziehung oder Begleitung?
 15    Unser Kind schläft nicht
 21    Wilder Junge in der Krippe
 31    Meine Tochter will selbst bestimmen
 37    Begraben Sie den Krieg mit Ihrer kleinen Tochter

 45  Gemeinschaft und Pädagogik
 49    Einsames, fünfjähriges Mädchen
 55    Unser Sohn gibt schnell auf
 61    Die große Schwester macht ihren
           kleinen Bruder zur Schnecke
 67    Nehmen Sie Ihre Grenzen ernst

 75  Reden Sie so, dass Ihre Kinder zuhören
 79    Wenn nur die Mutter taugt
 85    Ihre Kinder sehnen sich nach Geborgenheit
 93    Stiefvater oder Freund der Familie
 99    Unser Junge wird oft gescholten

107  Unser Kind fühlt sich nicht wohl
111    Ich kann zu meinem Ex-Partner nicht Nein sagen
119    Wie kann unser Junge ein besseres Selbstgefühl

            entwickeln?
125    Ist mein Bub schulreif?
131    Große Meinungsverschiedenheiten nach Scheidung

137  familylab - die Familienwerkstatt

Hinweis

Alle Namen sind verändert, sodass Rückschlüsse auf die realen Personen nicht möglich sind.

Im Sinne einer guten Lesbarkeit wurde auf die heute übliche Schreibweise LehrerInnen, PädagogInnen usw. verzichtet, es mögen sich aber bitte jeweils weibliche wie männliche Personen
angesprochen fühlen.

Wir haben die Übersetzung dem Original bewusst möglichst nahe gehalten, um den Ausdruck Jesper Juuls und die Emotionen der Eltern und Kinder beizubehalten.

Vorwort

Es besteht kein Zweifel daran, dass heutige Familien vielen Herausforderungen gegenüberstehen. Wir können uns nicht am Wissen unserer Eltern, an dem, was man damals tat, anlehnen. Es ist entscheidend zu verstehen, dass neue Zeiten neue Herausforderungen für die Familie mit sich bringen.

Der ständig wachsende Wunsch von Eltern, gute Eltern zu sein, stets das Richtige oder sogar Perfekte zu tun, wird schnell, oft sogar vor der Geburt des Kindes, unverhältnismäßig groß. Es ist, als ob diesem Perfektionismus eine Erwartung zu Grunde liegt, nach der perfektes Verhalten der Eltern zu problemfreien Kindern führt. Ein Kind kann damit zum Beweis dafür werden, dass ich es gut gemacht habe.

Das immerwährende Verlangen danach, gute Eltern zu sein, bringt viele dazu, auf Nachbarn, Kindergarten, Schule oder Fernsehen zu schielen, um die „richtigen“ Lösungen zu finden, und damit sickert die persönliche Führungsposition langsam aus der Elternrolle.

Kinder brauchen die Persönlichkeit der Eltern, um die Bindung zu spüren und sich verbunden zu fühlen. Sie sind darauf angewiesen, Grenzen und Gefühle authentisch und nicht als Installationen moderner Prinzipien zu erleben.

Vor nur 20 Jahren war es viel einfacher, seinem Kind gegenüber ein persönliches Nein zu vertreten. Vielen standen weniger Geld und Mittel zur Verfügung, um ihren Kindern ungeahnte Mengen Geburtstagsgeschenke, geschweige denn tägliche Geschenke, Erlebnisse, Markengewand, Extras für die Jause und Ähnliches zu geben.

Heutzutage können sich die meisten Leute viel mehr leisten und selbst in der Finanzkrise zeigen Untersuchungen, dass Kindersachen zu den Dingen gehören, an denen am wenigsten gespart wird. Das Nein wird für viele zu einem Prinzip, das im Namen der Perfektion von Zeit zu Zeit eingespart wird, anstatt herauszufinden, was man eigentlich meint. Das Gleiche gilt für einen ganzen Berg angelernter Prinzipien und Haltungen bezüglich Schlafenlegen, Essensgewohnheiten, Schulaufgaben, Strafen, Fernsehzeiten, Bettruhe usw.

Jesper Juuls Gedanken zum Familienleben sind nach wie vor originell und kreativ. Sie sind eine solide und alternative Grundlage dafür, was wir als Familien mit Kindern im neuen Jahrtausend benötigen. Wir müssen herausfinden, was wir selbst meinen, damit wir unseren Kindern wertebasierende Haltungen mitteilen können, damit sie ebenso lernen, zum Leben persönlich Stellung zu nehmen.


Ohne die persönliche Stellungnahme werden die Beziehungen leicht ausgehöhlt und leer, wobei es oft damit anfängt, dass das Elternpaar, das sein erstes Kind bekommt, kaum weiß, welche enormen Vorteile es der Beziehung bringt, in den vielen notwendigen Entscheidungen von Anfang an persönlich zu sein. Angefangen bei der Frage, ob das Kind gestillt werden oder Muttermilchersatz bekommen soll, oder in welcher Kinderbetreuungseinrichtung das Kind angemeldet werden soll. Die Experten stehen mit Ratschlägen bereit, aber nur die wenigsten betonen, wie wichtig es ist, dass die Eltern selbst fühlen, was genau für sie und ihr Kind das Richtige ist.

In diesem Buch haben wir uns entschlossen, 16 sehr verschiedene Familien vorzustellen, die alle verschiedenen Werten, Bedürfnissen und Herausforderungen in verhältnismäßig normalen Problemstellungen gegenüberstehen. Die Familien entstammen einer Gruppe von 100 Familien, die Jesper Juul und ich in den letzten fünf Jahren getroffen haben und die freigiebig genug waren, uns Einblick in Teile ihrer innersten Gedanken, Gefühle und Frustrationen im Familienleben zu geben.

Als professionelle Autorin und Coach habe ich mit den Familien ein einleitendes, danach hat Jesper Juul ein 1 bis 2-stündiges Gespräch geführt, bei dem ich anwesend war. Etwas später habe ich ein weiteres Mal mit der Familie gesprochen.

Die Geschichten bezeugen, wie wichtig es ist, persönlich Stellung dazu zu beziehen, was jeder von uns für richtig hält, kombiniert mit der Bereitschaft, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Ist es beispielsweise so verwunderlich, dass ein fünfjähriges Mädchen seinen kleinen Bruder mobbt? Ist es nicht naheliegend, dass es die Geburt des Bruders als Verlust empfindet, und genauso naheliegend, dass es diesen Verlust nur verwinden kann, wenn ihm mit Verständnis begegnet und ihm geholfen wird, seine Wut und Traurigkeit wieder loszuwerden?

Wie Jesper Juul in einem der Kapitel in diesem Buch schreibt, haben Eltern heutzutage sehr unrealistische Erwartungen, sowohl an sich selbst als auch in Bezug darauf, was ihre Kinder in einem bestimmten Alter lernen sollen. Das ist eine ewige Quelle für Konflikte und Gefühle des Scheiterns auf beiden Seiten des Tisches.

Beispielsweise sind die Erwartungen der Eltern an kindliche Lernfähigkeit oft viel zu hoch. Ein Kind kann erst ab etwa vier bis fünf Jahren ein Nein vollständig integrieren und bereits wenn das Kind drei Jahre ist, ärgern sich viele Eltern darüber, dass das Kind einem Nein nicht folgt.

Wenn wir uns umschauen, haben Begriffe wie Geschwindigkeit nahezu religiösen Charakter bekommen, ungeachtet dessen, dass die meisten Kinder in der Früh mehr Zeit brauchen, um fertig zu werden, als sie je bekommen, und allmorgendlich erwarten die Eltern wieder, dass sie schnell fertig werden sollen. Gleichzeitig werden Pausen gemieden und die gemeinsame Zeit soll mit Inhalt gefüllt werden. Unser Leben ist unglaublich lustbetont geworden und Gelüste wollen schnell erfüllt werden, aber unsere eigentlichen Bedürfnisse werden dabei übersehen. Beispielsweise das Bedürfnis nach Ruhe, um nachzufühlen, was wir als das Beste für unsere Kinder empfinden, und dies in einer sinnvollen Weise auszuformulieren.

Die Sitzungen, die Jesper und ich mit den Familien in den vergangenen fünf Jahren hatten, wurden oft mit tiefen Seufzern und einem Ausbruch beendet: „Ich bin so erleichtert, dass ich es richtig gespürt habe“ oder „Endlich bin ich in dem bestärkt worden, was ich für wirklich richtig hielt.“ Diese Worte sprudelten aus den Mündern von jungen und älteren Müttern und Vätern, Patchwork- und Singleeltern.

Wir haben es wieder und wieder gehört, egal ob es um die Handhabung von Schulbesuch oder Schulaufgaben, Mobbing, Ernährung, Geschwister oder um Bettgehzeiten, Konsequenzen und In-die-Ecke-Stellen ging.

Jesper Juul erinnert uns daran, dass Kindererziehung ein gegenseitiger Lernprozess ist und dass wir uns in der Elternrolle entwickeln müssen, wenn wir uns Kinder wünschen, die neue Fertigkeiten entwickeln sollen. Mehr als andere kehrt Jesper Juul zu der Tatsache zurück, dass Kinder sich in einem sicheren Rahmen wünschen, selbständige Individuen zu werden und dass wir sie das nur lehren können, wenn wir ihnen schrittweise Verantwortung übertragen, ihnen unser Vertrauen zeigen und ihnen Fehler zugestehen - ein Prozess, der bei der Geburt des Kindes beginnt.

Frag Jesper Juul - Gespräche mit Eltern wurde für Familien mit Kindern in jedem Alter geschrieben. Wir alle sind die Kinder unserer Eltern. Unsere Familien haben eine zentrale Bedeutung für unsere Entwicklung als Menschen.

Die folgenden Gespräche mit Eltern wurden in den Zeitschriften
„Vores børn“ und „Junior“ gedruckt.

Pernille W. Lauritsen
Mitbegründerin von familylab Dänemark

Erziehung oder Begleitung?

Jede Generation hat vorsichtige Änderungen in der Kindererziehung, die im letzten Jahrhundert zunehmend human wurde, vorgenommen. In den letzten 15 Jahren haben wir erlebt, dass Eltern etwa alle vier Jahre einen neuen Trend erschaffen. Durch ein chaotisches Wechselspiel zwischen Medien, Müttergruppierungen, Freunden und Fachleuten werden diese Tendenzen auf unvorhersehbare Weise geschaffen und neue Eltern haben den Eindruck, dass sie sich danach richten müssen. Eine dieser Tendenzen, nämlich die Notwendigkeit Kinder zu erziehen, hält sich seit mittlerweile zehn Jahren. Deshalb erscheint es sinnvoll zu klären, was Erziehung ist und was wir meinen, wenn wir von Erziehung reden.

Wenn wir meinen, dass Kinder erzogen werden sollen, haben die meisten das eine oder andere Ziel vor Augen. Es können alltägliche Ziele sein, wie beispielsweise, dass Kinder bei Tisch ordentlich sitzen und essen sollen. Dass sie lernen sollen, schön mit anderen Menschen zu sprechen oder auch etwas fernere Ziele. Diese ferneren Ziele sind nahezu immer eine Mischung aus elterlichen Normen, Werten und Ambitionen und politischen und gesellschaftlichen Zielen. Eigentlich lohnt es sich, drei Fragen zu bedenken: Welche Kinder wollen die Eltern haben? Welche Kinder will die Gesellschaft haben? Welche Kinder wollen die Kinder haben?

Als Eltern beschäftigen wir uns am meisten damit, was gut für unsere Kinder ist und was ihnen schadet - um es etwas vereinfacht auszudrücken. Oder sind wir in Wirklichkeit die meiste Zeit selbstbezogen? Wie oft tun wir etwas, im Grunde genommen um unser eigenes Selbstbild zu stärken oder uns besser zu machen, als wir sind? Als Grundlage für die Beantwortung dieser fundamental wichtigen Fragen kläre ich als Fachmann zuerst, was wir über die mentale, gefühlsmäßige und physische Gesundheit des Menschen wissen. Was fördert die Fähigkeit von Kindern, ihr eigenes Leben mit anderen Menschen zu leben, und was beeinträchtigt ihre Vitalität, Lebensfreude und ihre Fähigkeit, sich um sich selbst zu kümmern, ohne andere zu kränken?

Das Wort Erziehung umfasst mehrere Bedeutungen. Fachleute sprechen von Sozialisation und meinen die Notwendigkeit, dass Kinder sich den Normen und der Kultur einer Gesellschaft anpassen. Wir sprechen von Erziehung und meinen unser Bedürfnis, Respekt vor elterlichen oder institutionellen Werten zu lehren. Und weiters meinen viele damit Konditionierung. Konditionierung ist das, was der russische Psychologe Pawlow tat, als er seine Hunde mit Essen belohnte, wenn sie taten, was er wollte, und mit Schmerzen bestrafte, wenn sie nicht gehorchten.

In den letzten Jahren haben wir zwei nachteilige Trends gesehen. Der eine ist, dass Eltern unrealistische Vorstellungen davon haben, wie früh Kinder das lernen können, was Eltern meinen, dass sie lernen sollten. Der zweite ist die gestiegene Nachfrage nach Konditionierungstricks, also die Frage danach, was ich tun soll, damit ich möglichst schnell das Kind bekomme, das ich haben will. Beides führt dazu, dass Eltern hyperaktiv, frustriert und erschöpft werden, und das Gleiche geschieht mit den Kindern, die sich unter Druck setzen, um ihre Eltern froh und zufrieden zu machen.

Sind die Kinder nicht arm, könnte man fragen. Ja, das sind sie sicher, aber mich beschäftigt es vor allem, dass vorerst die Eltern leiden. Sie werden gestresst und verlieren die Fähigkeit, sich über ihre Kinder zu freuen. Die Freude wird langsam durch Sorge ersetzt. Sie vernachlässigen sich und ihre Beziehung und rauben ihren Kindern fundamental Wichtiges.

In den ersten drei bis vier Lebensjahren gibt es eigentlich keinen Grund Kinder zu erziehen. Sie brauchen nur gute Vorbilder und empathische Begleitung.

Das ist nicht ganz richtig. Die Wahrheit ist, dass das Meiste, das erziehend und sozialisierend wirkt, zwischen den Zeilen passiert. Es geschieht nicht, wenn wir Erwachsene uns als Eltern verkleiden und mit der Erziehungsarbeit beginnen. Also selbst ohne einen einzigen erziehenden Satz unseren Kindern gegenüber wären sie ständig Erziehung ausgesetzt. Kinder werden durch alles, was wir tun und sagen, geformt, manipuliert und erzogen, durch alles, was in uns und zwischen uns geschieht. Ihr Wille, sich der Umgebung anzupassen, ist enorm. Auch ihr Wille, sich um die eigene Integrität und Eigenart zu kümmern, ist stark, allerdings nicht so ausgeprägt wie der Anpassungswille.

Kinder lernen brav bei Tisch zu sitzen, wenn die Eltern das tun. Sie lernen, sich persönlich auszudrücken und zivilisiert mit Fremden zu sprechen, wenn ihre Eltern das tun. Sie lernen mit anderen zusammenzuarbeiten, wenn die Eltern das können, und genauso lernen sie auch die weniger schönen Seiten ihrer Eltern kennen. Das Problem ist häufig, dass Eltern und Pädagogen nicht die vier bis fünf Jahre warten können, die normale Kinder brauchen, um all das zu integrieren. Vor zwei Generationen wurde das Kommando „Benimm dich!“ ausgegeben, jetzt lautet es „Beeile dich!“


Es lohnt sich, Kinder als Wesen eines anderen Planeten anzusehen, die zu Besuch gekommen sind. Sie tun ihr Bestes und wenn wir den Eindruck haben, dass das nicht gut genug ist, brauchen sie einen Guide. Wenn der einjährige Frederik die Treppe erklimmt (von der er mit hoher Wahrscheinlichkeit herunterfallen wird), ist es ausreichend, seine Aufmerksamkeit zu ergattern, ihm mit einem freundlichen „Frederik!“ in die Augen zu sehen und zu sagen: „Du kannst die Treppe noch nicht alleine hochgehen. Soll ich dir helfen?“ In der Regel dauert es zehn bis zwanzig Sekunden, bevor seine Mimik „Ja bitte“ ausdrückt oder er sein Vorhaben aufgibt. Manche Kinder haben so viel Energie, dass man sich anstrengen muss, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, aber ohne Kontakt ist Erziehung unmöglich und - noch wichtiger: Ein großer Teil von dem, was wir Erziehung nennen, behindert den notwendigen Kontakt. Kleine Kinder wollen meist tun, was sie noch nicht können. So lernen und entwickeln sich Menschen aller Altersklassen.

Wenn das Verhältnis zwischen unserer bewussten, intentionalen Erziehung und der Erziehung zwischen den Zeilen 1:9 ist, haben wir wenig Kontrolle darüber, was Kinder wie lernen. Erziehung zwischen den Zeilen wird von Kindern mit allen Sinnen aufgenommen, fast so wie Pflanzen Sauerstoff mittels Osmose aufnehmen. Wenn wir mit dem Resultat nicht zufrieden sind, müssen wir nach innen blicken und unser eigenes Verhalten, das uns vorher vielleicht nicht bewusst war, korrigieren. Erziehung dreht sich viel mehr darum, wie und warum wir etwas machen, als darum, was wir machen. Mache ich etwas, weil ich aufrichtig meine, dass es meinem Kind auf lange Sicht am dienlichsten ist? Mache ich es für einen kurzsichtigen Gewinn? Mache ich es, um mein Image oder Selbstbild zu stärken? Mache ich es, um einem Konflikt auszuweichen? Mache ich es, um auf der richtigen Seite zu sein, oder - noch schlimmer - um perfekt zu sein?

Dieses Wechselspiel zwischen der kindlichen Fähigkeit zu Zusammenarbeit, Anpassung und dem Experimentieren mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen und der Fähigkeit der Eltern zur Begleitung und Korrektur des eigenen Verhaltens ist ideal für beide Seiten. Nachdem die meisten Kinder einen großen Teil ihrer wichtigsten Jahre in pädagogischen Institutionen verbringen, die nicht so gute Bedingungen bieten können, ist der elterliche Einsatz entscheidend für die Entwicklung der Kinder. Das bedeutet nicht, dass Kinder generell in Kindergarten oder Krippe Schaden davontragen. Es bedeutet nur, dass sie einen Teil der Vitamine nur in der Familie bekommen können. Eines der wichtigsten Vitamine, das Kinder brauchen, ist das Vitamin A (Aufmerksamkeit). Also die Fähigkeit und der Wille der Eltern, ihr Kind zu sehen und vor allem auf seine Bereitschaft zur Anpassung aufmerksam zu sein. Wenn ein Kind zu ambitionierter und projektartiger Erziehung ausgesetzt ist, entspricht das dem Versuch, Gras und Blumen durch Ziehen zum Wachsen zu bewegen. Wie jedes Kind weiß, geschieht das Gegenteil. Die Wurzeln der Pflanzen werden schwach und verlieren langsam die Fähigkeit, Nahrung aus der Umgebung aufzusaugen. Der ungeduldige Gartenbesitzer kann fertiges Gras in Rollen kaufen - Eltern tun gut daran, geduldig zu sein und das Kind das Tempo bestimmen zu lassen.

 

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Unser Kind schläft nicht

Die acht Monate alte Lærke will nur dann schlafen, wenn sie davor stundenlang gestillt wird. Die Eltern haben versucht, das dem Kind abzugewöhnen, die Mutter fürchtet aber, dass diese Methode zu hart sei. Jesper Juul erklärt, das Wichtigste ist, dass es ihnen
mit der gewählten Methode gut geht.

Brief an familylab

Unsere Tochter Lærke ist acht Monate alt und will nur dann
schlafen, wenn ich ihr zuvor teilweise stundenlang die Brust
gebe. Ich bin es bald leid, dass die Verantwortung, sie zum
Schlafen zu bewegen, auf mir lastet. Wir sind deshalb zu einer
Methode des Schlafenlegens übergegangen, bei der man
„Gute Nacht“ sagt, sie hinlegt und sie dann immer länger wei-
nen lässt, bevor einer von uns sie trösten geht. Das scheint zu
wirken, aber wir zweifeln, ob es richtig ist, eine solch strikte
Methode bei unserem kleinen Kind anzuwenden.

Viele Grüße
Mette und Anders

Das Gespräch

Jesper Juul: Was kann ich für Sie tun?

Mette: Unsere kleine Tochter will nicht schlafen und wir haben verschiedene Methoden versucht, sie zum Schlafen zu bringen. Zuerst bekam sie lange die Brust, aber das war für mich auf Dauer frustrierend. Jetzt sind wir dazu übergegangen, sie trotz Weinens niederzulegen und nach drei Minuten nach ihr zu schauen. Ich finde das hart, dass wir einfach so von ihr weggehen, wenn sie schlafen soll.

Jesper Juul: Was denken Sie, Anders?

Das Problem mit Kindern ist, dass alles wirkt, und je roher man sie behandelt, desto wirkungsvoller.

Anders: Ich empfinde es auch als hart. Aber ich habe von Kollegen gehört, dass es wirkt. Es ist auch immer kürzer geworden. Nur gestern dauerte es länger, weil sie übermüdet war. Aber ich bin manchmal besorgt, dass unsere Methode sie trauriger macht.

Mette: Zu Beginn dauerte es eine dreiviertel Stunde, bis sie schlief, aber nun dauert es nicht so lange. Jetzt wird sie eher sauer und meckert, als dass sie richtig weint.

Jesper Juul: In dem Alter wird man nicht sauer (lächelt). Man wird frustriert!
Sie erwähnen zweierlei: Vier Stunden Brust geben und die 3 bis 5-Minuten-Methode. Beide bisher beschrittenen Wege sind extrem. Ausschlaggebend ist nicht die Strategie, die man wählt, sondern der Tonfall. Sie ist ja absolut unschuldig. Sie hat sich an das erste System mit dem Stillen angepasst und wird sich auch an das nächste anpassen. Kinder passen sich an was auch immer an.
Lærke braucht nicht korrigiert zu werden, Sie hingegen. Sie müssen sich mit dem, was Sie tun, wohl fühlen. Wenn Ihnen dieses System in so kurzer Zeit hilft, ja, dann schlucke ich das. Das Problem mit Kindern ist, dass alles wirkt, und je roher man sie behandelt, desto wirkungsvoller. Und diese Methode ist schroff!
Gleichzeitig möchte ich Sie davor warnen zu glauben, dass sie in Zukunft pünktlich schlafen wird. Als mein Sohn zwischen vier und zehn Monate alt war, schlief er nicht mehr als eineinhalb Stunden pro Nacht.
In einem meiner Bücher habe ich vor der von Ihnen gewählten Methode gewarnt. Vor ein paar Jahren war sie in Schweden modern und ich bekam viele Emails von Eltern, die es als Fiasko empfanden, wenn sie die Methode nicht durchführen konnten. Sie hielten das nächtliche Schluchzen nicht aus.

Mette: Ich befürchte auch, dass diese Methode zu hart ist. Es fällt mir jedenfalls schwer, sie durchzuführen.

Jesper Juul: Wie geht es Ihnen damit, Anders?

Anders: Ich habe den Eindruck, dass sie gut wirkt.

Vielleicht ist Ihr Herz nicht bereit loszulassen und dann arbeitet Lærke mit Ihren Gefühlen.

Jesper Juul: Solange sie den Eindruck hat, dass Sie gelassen bleiben, ist diese Methode genauso gut wie alle anderen 47 Methoden. Sie scheint ja bei ihr relativ schnell zu wirken. Wenn diese Methode nach wenigen Tagen wirkt, ist sie akzeptabel.
Lærke braucht jetzt Eltern, die zuversichtlich sind bei dem, was sie machen. Wenn sie das Gefühl bekommt, dass Sie glauben, dass etwas falsch läuft, dann kann es bei ihr Unsicherheit bewirken,
wenn Sie gehen.

Anders: Soll das heißen, dass die Methode in Ordnung ist?

Jesper Juul: Was diese Methode jetzt macht, ist, Ihnen Sicherheit zu geben. Wenn Sie als Vater ein engstirniger Mensch wären, dann sollten Sie eine solch schroffe Methode gar nicht verwenden, weil Sie sonst noch mehr Radau und Protest von Ihrem Kind ernten. Aber Sie sind runde und weiche Eltern, weshalb sie für eine kurze Zeit eine gute Methode ist.
Wenn Sie alle dänischen Säuglingsschwestern befragen, wird die eine Hälfte die Methode als falsch empfinden und die andere meinen, dass sie richtig ist.
Lærkes Wohlergehen ist davon abhängig, dass Sie die Verantwortung für Ihr Verhalten tragen.
Wenn sie beispielsweise als Zweijährige Schlafprobleme bekommt, dann sollten Sie bei sich selbst nachschauen. Sie ist es nicht, die geändert werden soll. Sie sollten Ihr eigenes inneres oder äußeres Verhalten ändern.
Wenn Sie die Situation unerfreulich finden, sollten Sie darüber nachdenken, was Sie dazu beigetragen haben. Nicht im Sinne einer Schuldzuweisung, die Schuldfrage ist nämlich völlig uninteressant.

Mette: Aber das fühlt sich ein wenig wie eine Niederlage an.

Jesper Juul: Das ist es nicht. Ich glaube, dass Sie genau das erleben, was viele andere Paare auch erleben - dass es Unterschiede zwischen Mann und Frau, Mutter und Vater gibt. Sie werden vielleicht herausfinden, dass sie weint, wenn Sie, Mette, sie abliefern, aber nicht, wenn Anders sie abliefert. Das ist ganz normal.

Kinder achten genau auf die innere Stimmung der Eltern.

Vielleicht ist Ihr Herz nicht bereit loszulassen und dann arbeitet Lærke mit Ihren Gefühlen. Kleine Kleine Kinder achten genau auf die innere Stimmung der Eltern. Das bedeutet nicht, dass Ihre innere Stimmung immer in Ordnung sein muss - das wäre ja eine unmögliche Forderung. Aber es ist etwas, auf das Sie aufmerksam sein können.
Im Hinblick darauf, Lærke schlafen zu legen, glaube ich, je gelassener Sie werden, desto mehr erreichen Sie, was Sie gerne haben wollen. Ich werde nie dazu kommen, ein Buch über das Ins-Bett-Bringen von Kindern zu schreiben, weil es so individuell ist, was funktioniert. Es geht darum, dass Sie bei dem, was Sie tun, zuversichtlich sind und sich wohl fühlen.

Nach dem Gespräch

Es war eine große Erleichterung zu erfahren, dass wir nichts falsch gemacht haben und dass es keine „richtige“ Methode gibt, Kinder niederzulegen. Nach der Sitzung mit Jesper Juul fiel es uns leichter, uns zu entspannen, und sofort begann Lærke sich mehr zu entspannen, wenn sie schlafen gelegt werden sollte.

Wir sind im Umgang mit der Methode milder geworden und haben stattdessen unsere eigene Ausgabe gefunden, bei der wir fünf bis zehn Minuten bei ihr sitzen, bis sie einschläft. Nach ein paar Wochen konnten wir sie mit gutem Gewissen und großteils ohne Weinen in nur einer viertel Stunde schlafen legen. Wir haben eingesehen, dass es darum geht, unsere eigene Art zu finden, wie wir die Dinge machen, statt nach der richtigen Lösung zu suchen.

Mit anderen Worten, unsere eigene Art ist die richtige.
 

Wenn Ihr Baby Schlafprobleme hat

Wenn Ihr Kind zur Schlafenszeit traurig und unruhig ist, dann
fühlen Sie bei sich selbst nach. Wie geht es Ihnen damit, Ihr
Kind schlafen zu legen?

Wenn es Ihnen schwer fällt zu gehen, fällt Ihre Unsicherheit
dem Kind sofort auf und es wird verunsichert. Sorgen Sie des-
halb dafür, Ihr Kind so schlafen zu legen, dass Sie dazu ste-
hen können.

Es funktioniert gut, dem Elternteil, der am gelassensten ist,
das Schlafenlegen anfänglich zu überlassen. Dann kann der
andere Elternteil in aller Ruhe die Gelassenheit finden und
beim Schlafenlegen helfen, sobald es ihm damit gut geht.
Denken Sie daran, dass es keine richtige Weise gibt, das Kind
schlafen zu legen. Wählen Sie eine Art, die in Ihrer Familie
wirkt und mit der es allen gut geht. Lernen Sie vor allem die
verschiedenen Tonarten des Weinens Ihres Kindes kennen.
Bei tiefem, unglücklichem oder ängstlichem Weinen sollten
Kinder nicht allein gelassen werden.

Erlauben Sie sich, Fehler zu machen. Es kann sein, dass Sie
einige Versuche machen müssen, bevor es gelingt. Bemerken
Sie unterwegs auch die kleinen Erfolge.

 

Wilder Junge in der Krippe

Der zweijährige Nikolas ist groß und stark und voller Energie und reißt anderen Kindern gern das Spielzeug aus der Hand. Seine Eltern befürchten, dass er als der „Terrorist“ der Krippe abgestempelt wird. Jesper Juul sagt, es ist wichtig, dass Nikolas nicht schlecht gemacht wird, sondern Hilfe bekommt, seine eigene Stärke kennen zu lernen.

Brief an familylab

Unser Sohn Nikolas ist knapp zwei Jahre alt. Er ist für sein
Alter groß und stark und vor allem sein Vater liebt es, mit ihm
zu spielen und herumzutollen. Nach einem Gespräch mit ei-
ner Pädagogin der Krippe, die uns von Nikolas’ heftigem Ver-
halten anderen Kindern gegenüber erzählte, wollen wir ihm
beibringen, dass es Unterschiede zwischen dem Spielen mit
Erwachsenen und dem mit anderen kleinen Kindern gibt. Wie
machen wir das? Und wie verhindern wir, dass andere Eltern
oder Pädagoginnen ihn zu sehr schelten, wenn er manchmal
schlägt oder ein wenig zu grob anderen gegenüber wird? Wir
kennen unseren Jungen und wissen, dass er empfindsam ist
und nicht aus böser Absicht schlägt. Wir wollen verhindern,
dass er zum „Terroristen“ der Krippe gestempelt wird.

Liebe Grüße
Sofie und Ruben

Das Gespräch

Jesper Juul: Worüber wollen Sie sprechen?

Sofie: Unser zweijähriger Junge ist für sein Alter groß und stark und liebt es herumzudüsen. Letztens nahm mich eine Kindergartenassistentin zur Seite und erzählte, dass Nikolas manchmal anderen Kindern gegenüber etwas grob sein kann. Sie fragte, ob er zu Hause viele gewalttätige Computerspiele spielen würde. Er hat bisher weder Computerspiele gespielt noch Gewaltfilme gesehen. Er will nicht einmal zwei Minuten vor dem Fernseher still sitzen, sondern lieber hinaus, um draußen zu spielen. Er lacht viel und wir haben die meiste Zeit viel Spaß miteinander.

Viele Jungen, die später im Leben roh und etwas gemein werden, hatten nie die Gelegenheit, herumzutollen und mit ihrem Vater wild zu spielen.

Ruben spielt wild mit ihm, daran besteht kein Zweifel. Die beiden lieben es, am Boden herumzutollen. Später sagte eine andere Pädagogin, dass sie nicht besorgt seien, aber dass sie ihn im Auge behalten. Auch, weil er einfach zu anderen Kindern geht und ihnen Spielzeug aus den Händen nimmt. Ich erschrak ein wenig: Wird er ein grobes Kind oder was?

Jesper Juul: Ich finde, dass das ganz normal klingt. Mit seiner Größe fällt es ihm leicht, anderen Kindern etwas wegzunehmen oder sie wegzuschieben. Er hat ja nie erlebt, „underdog“ zu sein. Und dass Ruben und er viel herumtoben, ist eine phantastisch gute Sache.
Auf der einen Seite hilft es ihm in Hinblick auf seine Motorik, andererseits macht es ihn glücklich. Viele der Jungen, die später im Leben roh und etwas gemein werden, hatten diese Möglichkeit nicht. Es kann sein, dass ihre Mütter mit ihnen herumgetollt haben, aber das Problem ist, dass Jungen lernen müssen, ihre maskuline Energie zu steuern. Und das können sie nur mit einem Mann lernen. Durch Herumtollen und spielerisches Raufen.

Ruben: Es arbeiten auch keine Männer in seiner Krippe.

Jesper Juul: Das ist ja generell ein Problem. Und darüber hinaus sind heutzutage einige Krippen und Kindergärten unglaublich anti-aggressiv. Sie können getrost 50 Prozent von dem, was sie über Nikolas sagen, abziehen. Das sagt viel mehr über ihre eigene Sicht auf Jungen und die Bedingungen für Jungen aus.

Sofie: Ich ging jedenfalls nach Hause und fragte Ruben, was wir machen sollten. Und wir wurden uns darin einig, dass er vielleicht aufhören sollte, so wild mit Nikolas zu spielen, und dass wir ihm sein Plastikschwert und solche Sachen abnehmen sollten. Aber dann ist das ja falsch?

Jesper Juul: Ja, das sollten Sie nicht machen. Nein, nein. Ich würde mir um ihn überhaupt keine Sorgen machen. Ich könnte besorgt sein, wie beispielsweise die Pädagoginnen in der Krippe reagieren. Aber nicht das andere.

Die pädagogische Kultur ist derzeit unglaublich anti-aggressiv. Sie können getrost 50 Prozent von dem abziehen, was die Pädagoginnen darüber sagen.

Etwas von dem, was Pädagoginnen und Pädagogen in Krippen und Kindergärten vergessen und eigentlich genau wüssten, würdensie nur in ihren Lehrbüchern nachschlagen, ist, dass Kinder nicht vor dem vierten Lebensjahr eine Vorstellung von Richtig und Falsch verinnerlichen. Davor können sie damit nichts anfangen, weil ihre Gehirne dafür nicht eingerichtet sind.
Es wird deutlich, wenn man im Gegensatz dazu einen Winzling hernimmt, der alleine bei seiner Mutter lebt, nur still sein und nicht zu viel Radau machen soll. Wenn ein solcher Winzling in eine Gruppe mit anderen Kindern kommt, dann wird er sehr gut darin sein, sich klein zu machen und seinen Platz in der Gemeinschaft zu finden. Nikolas aber ist das Gegenteil. Ich kann aus Ihren Erzählungen hören, dass er sehr expressiv ist. Und das heißt, dass er vermutlich immer einer sein wird, zu dem Menschen in seiner Umgebung Stellung beziehen werden. Ob sie für oder gegen ihn sind, ob sie finden, dass er zu viel oder zu wenig ist. Aber nichts von dem, was Sie sagen, deutet darauf hin, dass etwas nicht stimmen würde.
Manchmal sieht man in Krippen und Kindergärten Kinder, die aggressiv und etwas wilder werden, weil sie einfach mit ihrem Leben unzufrieden sind. Aber darauf deutet in diesem Fall nichts hin.

Sofie: Wenn wir zum Thema Schlagen zurückkehren, dann gab es einen Punkt, wo das ein Problem war.
Freunde von uns haben einen Jungen, der vier Monate jünger als Nikolas ist, ein richtig süßer Knirps, Finn. Manchmal schubst Nikolas ihn oder reißt ihm Spielzeug aus den Händen. Und da können die Eltern mitunter sehr aufbrausend reagieren, wenn Nikolas Finn im Vorbeilaufen umschmeißt.
Selbstverständlich springen wir auf und trösten den Kleinen und erzählen Nikolas, dass er das Spielzeug nicht wegschnappen darf. Mir fällt es aber schwer, die Art des Vaters, darauf zu reagieren, zu billigen. Es ist einige Male geschehen, dass er wütend aufgesprungen ist und gesagt hat: „Sag mal, quält er Finn schon wieder?“ Ich empfinde diese Interpretation als sehr hart, als ob Nikolas das aus Bosheit täte. Deshalb möchte ich gerne von Ihnen erfahren, was wir tun sollen, wenn wir bei Freunden oder dieser Familie sind und Nikolas plötzlich anderen Kindern gegenüber zu grob wird.

Jesper Juul: Man sollte sich vergegenwärtigen, dass Nikolas das tut, was er tut. Und er ist mit einer guten Portion Selbstvertrauen ausgestattet. Was dann geschieht, ist, dass entweder Sie oder alle möglichen anderen ständig auf ihn reagieren. Sie können sagen: „Nikolas, ich will nicht, dass du schlägst.“ Aber Sie müssen wissen, dass Sie das die nächsten Jahre oft sagen müssen, bevor er das verinnerlicht hat. Und je mehr Erklärungen Sie ihm geben, desto länger dauert es.
Es ist auch wichtig, dass andere Menschen sich frei fühlen, ihn zu stoppen. Aber wenn sie nicht schaffen, ihn zu stoppen, ohne ihn gleichzeitig zu kritisieren und niederzumachen, dann sollte man darüber reden. Es ist aber wichtig, dass sie ihn stoppen.
Diese Menschen sollten unbedingt auch wissen, dass Kinder nicht durch ihre Erfahrungen lernen, wenn sie gleichzeitig kritisiert und gescholten werden. Wenn sie beispielsweise hinfallen und sich wehtun, ohne gescholten zu werden, dann lernen sie nach und nach, vorsichtiger zu werden. Deshalb braucht Finns Vater eine Rückmeldung von Ihnen. Und das können Sie auch in der Krippe erzählen, wenn Sie erleben, dass die Pädagoginnen im Umgang mit ihm unsicher sind.
Sagen Sie ihnen: „Sie dürfen ihn ruhig bitten aufzuhören und Sie dürfen gerne sagen, dass er nicht hauen soll. Ich will aber nicht, dass Sie ihn zum „Terroristen“ stempeln oder ihn zu einem großen Problem machen. Aber Sie dürfen ihn gerne stoppen, er soll es ja lernen. Er muss seine Größe und seine Kräfte und so weiter einzuschätzen lernen.“
Das dauert aber noch und wer so viel Energie hat, vergisst in der Eile so manches; mehr als andere Kinder. Dadurch kollidiert er mit der Institutionskultur, wir müssen uns eben alle an die Kulturen, in denen wir verkehren, anpassen. Aber es nützt nichts, schlecht gemacht und zum Problem ernannt zu werden. Dies hier ist kein Problem. Sein Tun ist nicht Ausdruck dafür, dass er nicht gedeiht. Es zeigt, dass er ein Junge ist, viel Energie und Appetit auf's Leben hat und dass er noch nicht gelernt hat, dass man Menschen, die einem im Weg stehen, aus dem Weg gehen kann.

Dies ist kein Problem.
Er ist nur ein Junge mit großem Appetit auf das Leben, der noch nicht gelernt hat, dass man anderen Menschen, die einem im Weg stehen, aus dem Weg gehen kann.

Sofie: Meine Sorge war auch auf das Zusammentreffen mit der Institutionskultur, den Pädagoginnen und Assistentinnen bezogen. Und was tun, wenn diese aus dem eigenen kleinen Kind etwas machen, das er in unseren Augen gar nicht ist? Ein anderes Mal kam ich in die Krippe, als er dabei war, ein kleines Mädchen mit dem Puppenwagen umzufahren. Mir gelang es gerade noch, ihn zu stoppen. Zwei Sekunden später gingen die beiden Hand in Hand. Hat er denn gar kein Gefühl dafür, dass etwas passiert, wenn man jemanden rammt?

Jesper Juul: Nein, woher sollte er das auch haben?

Ruben: Aber wann lernen Kinder, dass ein Nein ein Nein ist?

Jesper Juul: Sie lernen es von Anfang an und können im Alter von vier bis fünf Jahren damit beginnen, es zu verinnerlichen. In diesem Alter beginnen sie Moral- und Wertvorstellungen zu integrieren. Früher sagte man Kindern: „Schau mal, tue ich dir das Gleiche an, was du dem Knirps angetan hast, dann kannst du selbst fühlen, wie weh das tut.“ Oder man bestrafte auf eine andere Art.
So lernten Kinder aus reiner Angst, etwas zu lassen. Aber so wird es nicht verinnerlicht. Und deshalb sehen wir ja so viele, die alles fallenlassen und sich völlig kindisch benehmen, sobald sie in die Welt hinauskommen. Weil sie lernten, nur aus der Angst vor Bestrafung etwas bleiben zu lassen. Aber nicht, weil sie verinnerlicht oder begriffen hatten, warum man etwas nicht tun soll.

Sofie: Hat es nie gewirkt, wenn Eltern so handelten?

Jesper Juul: Doch, kurzfristig hat es gewirkt. Ich habe auch Eltern getroffen, die bis zum Äußersten gingen, wenn ihre Kinder etwas falsch gemacht hatten. Wenn man aber als kleiner Zweijähriger plötzlich vollkommen außer sich ist und noch nicht in dem Tempo, in dem man denkt, reden kann, ja was zum Teufel soll man da tun? Dann reißt man vielleicht an Ihrer Hand oder beißt Ihnen in den Finger.

Sofie: Er wirft eher etwas durch die Gegend.

Jesper Juul: Und das ist sogar ungemein zivilisiert. Aber es könnte ihm ja einfallen, Sie zu beißen, und manche Eltern kommen dann auf die Idee, zurückzubeißen. Aber das geht doch nicht! Man kann doch nicht beißen und gleichzeitig erzählen, dass man nicht beißen darf! Wenn er mit Spielzeug um sich wirft, können Sie sagen: „Huch, bist du so wütend? Dann sollten wir uns lieber hinsetzen.“ Und deshalb sind Rubens Rangeleien mit ihm so unglaublich wichtig.

Ruben: Aber kann er das davon unterscheiden, dass er so nicht mit den anderen Kindern raufen darf?

Jesper Juul: Nein, noch nicht - aber das lernt er. Und es ist eine gute Idee, im Bett, am Boden oder in der Wiese herumzutollen. Wenn Sie einander beim Herumtollen festhalten. Das ist ungemein wichtig, insbesondere für Nikolas, der erst lernen muss, seine überschüssige Kraft zu beherrschen und wo die Grenzen anderer Menschen verlaufen. Sie dürfen ihn nicht immer gewinnen lassen, er muss auch verlieren, damit er es richtig lernen kann.

Sofie: Dass wir nicht mit den Pädagoginnen in der Krippe einer Meinung sein müssen, ist befreiend. Und dass wir weiterhin herumtollen und spielen können. Wir sind nicht sonderlich ernste Menschen. Wir lachen viel und haben gemeinsam Spaß und machen es uns gemütlich. Wir haben nicht so viele Regeln. Natürlich soll er schön essen und ordentlich sitzen.

Jesper Juul: Natürlich soll er das. Aber man soll immer daran denken, dass zweijährige Kinder vieles müssen, aber dass sie Zeit brauchen, um es zu lernen, und das dauert mehr als die eineinhalb Monate, die Eltern sich dafür wünschen. Das dauert lange. Und man muss daran denken, was Hirnforscher endlich nachweisen konnten: Wenn Kinder kritisiert werden, während sie lernen sollen, dann lernen sie nichts. Das Hirn bleibt einfach stehen. Deshalb ist es wichtig, auch den Assistentinnen zu helfen und ihnen zu sagen: „Ich bin nicht dafür, mit Ihnen darüber zu sprechen, dass Nikolas ein Problem ist, nachdem Sie ihn nur einen Monat oder zwei kennen. Aber ich kann hören, dass Sie Probleme damit haben, dass er so grob ist. Und Sie dürfen ihn ruhig stoppen. Ich will nur nicht, dass Sie ihn schlecht machen.“

Wenn Kinder kritisiert werden, während sie lernen sollen, dann lernen sie nichts.

Sofie: Das ist angenehm zu wissen. Natürlich erschrickt man als Elternteil, wenn man sieht, dass ein größerer Junge das eigene kleine Kind niederrennt.

Jesper Juul: Jaja. Eltern sind ab und zu unglaublich primitiv, wenn es um ihre eigenen Kinder geht. So ist das.

Nach dem Gespräch

Es war unglaublich angenehm, mit Jesper Juul über Nikolas' Situation zu sprechen. Es war kein großes Problem, aber es ist ein gutes Gefühl, es bereits bearbeitet zu haben, bevor es vielleicht plötzlich zu einem großen Problem wird.

Wir sind Nikolas gegenüber geduldiger geworden, wenn er beispielsweise die Gabel auf den Tisch wirft oder im Wohnzimmer herumsausend Fußball spielt. Wir hatten nie die Gewohnheit herumzuschreien, aber wir machten uns wegen seines wilden Verhaltens Sorgen. Nun wissen wir, dass er nicht zu wild ist, und wir sagen ihm in aller Ruhe „Nein“, wenn er etwas nicht darf, und erzählen ihm, was er stattdessen darf.

Ohne von ihm zu erwarten, dass er es innerhalb einer Woche lernt.

Es ist befreiend, bestätigt zu bekommen, dass die Pädagoginnen nicht „immer“ recht haben, sondern dass es viele Sichtweisen gibt, und dass man natürlich immer über diese Dinge reden kann. Auch mit anderen Eltern, wenn sie meinen, dass er zwischendurch zu wild ist. Das wird die Lösung für die Zukunft sein:
Leuten zu erzählen, dass sie ihn gerne stoppen dürfen, aber dass sie am besten nicht mit ihm schimpfen sollen. Nach dem Gespräch mit Jesper Juul hat sich vieles geändert und Nikolas wurde ruhiger. Sein Vater spielt nach wie vor wild mit ihm und er hat nun ein besseres Gespür dafür, wo die Grenze verläuft.
 

Wenn Ihr Kind wild spielt

Die Hirnforschung hat nachgewiesen, dass Gehirne von
Kindern „stehenbleiben“, wenn sie kritisiert werden, während
sie etwas lernen sollen. Richtiges Lernen geschieht nur, wenn
sie nicht heruntergemacht, sondern begleitet werden.
Seien Sie geduldig, wenn Sie versuchen, Ihrem Kind ein Nein
verständlich zu machen. Das dauert.
Statt ständig Nein zu sagen, sagen Sie Ihrem Kind, was es
stattdessen tun darf.
Sagen Sie anderen Eltern und pädagogischem Personal in
der Krippe, dass sie Ihr Kind ruhig stoppen dürfen, wenn es
zu wild spielt, aber dass sie nicht mit ihm schimpfen sollen.
Das führt nämlich nur dazu, dass das Kind Schuld empfindet
und länger braucht, es zu lernen.
Es ist eine gute Idee, mit Kindern herumzutollen und wilde
Spiele zu spielen. Insbesondere, wenn es ein Junge ist. Jun-
gen müssen lernen, ihre maskuline Energie handzuhaben
und das geschieht, wenn sie mit großen Jungen (wie ihren
Vätern) spielen.