Die Diagnose Demenz erhielt ich sieben Jahre vor dem Tod meines Mannes. Ich kannte die Krankheit nicht, weder die Symptome am Anfang, den Verlauf, noch das Ende.
wurde 1926 in Düsseldorf geboren. Neben dem Besuch der Schule für Hauswirtschaft und Kinderpflege nahm sie privat Klavier-, Flöten- und Gitarre-Unterricht am Konservatorium - sie wollte Musiklehrerin werden.
Bei einem Bombenangriff 1943 wurde Hella Klein verschüttet und die Finger ihrer rechten Hand bleibend verletzt, weshalb sie ihr Musikstudium aufgeben musste.
Sie konzentrierte sich nun auf die Arbeit mit Kindern, vor allem in Säuglings- und Kinderheimen. Berufsbegleitend besuchte sie in Abendkursen das Kindergärtnerinnen-Seminar.
Nach ihrer Heirat 1948 und der Geburt ihrer beiden Kinder arbeitete sie ab 1958 mit kleinen Kindergruppen, in denen einzelne Kinder gefördert, aber auch Gruppentherapie durchgeführt wurde.
Ab 1965 war Hella Klein in Kindergärten und an der Uniklinik in Düsseldorf tätig. An der Abendschule erwarb sie 1973 die Fachhochschulreife und 1974 die staatliche Anerkennung zur Erzieherin an der Fachschule für Erzieherinnen der Ursulinen in Düsseldorf.
Die Ausbildung zur Montessori-Pädagogin prägte ihren weiteren Lebensweg, die Demenzerkrankung ihres Mannes war für sie Anlass, diese Methode auf die Arbeit mit SeniorInnen und Demenzkranken zu übertragen.
9 Mein Weg
13 Grundlagen
15 Demenz - eine Krankheit
15 Was ist eine Demenzerkrankung?
16 Alzheimer - Demenz
17 Erkennen von demenziellen Erkrankungen
18 Wie kam ich zu Montessori?
18 Wer oder was ist Montessori?
19 Was zeichnet den Montessori-Betreuer aus?
20 Zusammenleben mit Senioren, Pflegebedürftigen
und Demenzkranken
20 Der Partner leidet an Demenz oder wird zum
Pflegefall
24 Was kann das Zusammenleben verbessern?
25 Praktische Vorschläge im Umgang mit
Demenzkranken
26 Leben mit Demenzkranken
29 Verständnis für die Kranken
- ein Wort an Sie in der Altenpflege
30 Was ist für mich Stress?
33 Praxis
35 Wichtige Aspekte der Praxisarbeit
37 Vorbereitete Umgebung
38 Übungsziele
39 Grundhaltung
40 Bewegungsanalysen
41 Wäscheklammern
44 Farbkreis
46 Jahreskreis
49 Übungen der Hände mit Spielfiguren
52 Übungen der Hände mit Sand oder Körnern
55 Arbeit mit einer Fläche
57 Einordnen von verschiedenen Flächen
60 Scheiben auf einen Stab stecken
62 Scheiben auf eine Querstange schieben
64 Einsatzzylinder
66 Schüttübung 1
68 Schüttübung 2
70 Schüttübung 3
72 Schüttübung 4
74 Löffelübung 1
76 Löffelübung 2
78 Löffelübung 3
80 Löffelübung 4
82 Schöpfen
85 Zehnerspiel mit Würfeln
88 Spiel- und Beschäftigungsmaterial
88 Verschiedene Memory-Spiele
91 Legespiele
94 Muschel-Spiel95 Spiel mit Nüssen
96 Veeh-Harfe
98 Knete
100 Feste feiern mit Demenzkranken
103 Berichte
105 Neu im Seniorenheim
108 Das muss ich noch oft üben
112 Die Hände wieder bewegen
118 Wäscheklammern habe ich schon lange nicht
mehr in der Hand gehabt
130 Noch mal
134 Der Schmuck ist weg!
138 Mein Kleines
141 Möchten Sie einmal probieren?
143 In Afrika war ich Madame E
145 Der innere Bauplan
148 Sternstunden
151 Ich kann dann wieder nach Hause
154 Hier kann man spielen
157 Mich mag hier keiner
161 Meine Kinder kommen, die wollen essen
165 Angehörigen-Treff
166 Angehörige und Freunde erzählen
171 Noch einmal: der wesentliche Unterschied
Mehrere Jahre vor seinem Tod litt mein Mann unter anderem auch an Demenz und ich musste lernen, mit diesen schweren, oft unverständlichen, kaum zu schildernden Situationen fertig zu werden.
Ich hatte auf einmal einen Lebensgefährten, den ich nicht mehr kannte. Er hatte sich sehr verändert. Er wollte sich nicht waschen, er nahm auch keine Hilfe an. Ohne offensichtlichen Grund schrie er plötzlich laut „Donnerwetter“, schlug mit der Faust fest auf den Tisch und lachte dabei. Als andere Gäste erschrocken reagierten, wurde er still und schaute freundlich, als wäre nichts geschehen. Er reagierte nun wieder ganz normal.
Solche Ausfälle geschahen immer häufiger. Wenn ich ihn darauf ansprach, reagierte er ganz erstaunt. Er hatte sein Verhalten vergessen! Ich brauchte viel Zeit, um das zu verstehen. Ich besorgte mir Literatur über die Demenzerkrankungen und verstand endlich, dass mein Mann krank war - er litt an Demenz. Die Wahrheit war schwer zu ertragen.
Die Symptome, den Krankheitsverlauf und viele Anregungen fand ich in der Literatur, aber ich fand keine Beschreibung, wie wir Angehörigen am besten mit dem Kranken umgehen konnten.
Ich versuchte, nach Möglichkeit auch in sehr kritischen Situationen, wenn mein Mann aggressiv wurde, die Ruhe zu bewahren, was mir nicht immer gelang. Ich flüchtete dann oft aus dem Zimmer.
Erst nach Jahren erkannte und begriff ich, dass Demenzkranke von Angst gepeinigt sind: wenn man ihnen widerspricht, wenn man laut wird, wenn es klingelt, wenn man eine neue Tätigkeit beginnt.
Es war ein langer, schwieriger Weg für mich, bis ich gelernt habe, mit meinem Mann und mit dieser Krankheit friedlich zu leben. Nach dem Tod meines Mannes wollte ich meine Erfahrung mit ihm, verbunden mit der Montessori-Ausbildung, an demenzkranke Senioren weitergeben.
In der Tagesstätte für Senioren und Demenzkranke durfte ich wöchentlich die Tagesgäste besuchen.
Eigentlich wollte ich zuerst die Kranken beobachten: Was können sie noch, wie bewegen sie sich, wie reagieren sie auf mich, auf meine Ansprache. Zwei der Kranken saßen still, fast teilnahmslos am Tisch und bewegten auch ihre Hände kaum. Mehrere beobachteten mich, andere bemerkten mich kaum. Aber als ich mich an einen Tisch setzte, kamen fünf Personen, von der Betreuerin aufgefordert, zu mir an den Tisch. Die Betreuerin brachte das Spiel Mensch ärgere dich nicht und erklärte mir die Behinderungen der einzelnen Bewohner und Bewohnerinnen. Z. B. Herr A kann nicht gut hören, Frau B kann nicht gut sehen, Frau C braucht besondere Hilfe.
Ich stellte mich vor: „Ich bin Frau Klein. Wenn Sie möchten, können wir gemeinsam spielen.“ Einige nickten mir zu, andere schauten mich erwartungsvoll an und warteten, dass ich beginne.
Ich würfelte für meine Nachbarin, die nicht gut sehen konnte. Gemeinsam zählten wir die gewürfelten Punkte und stellten die Spielfigur auf das passende Spielfeld. So ging die erste Runde zu Ende. Eine Mitspielerin konnte nicht verlieren. Die Tränen kamen, wenn sie von einem Mitspieler rausgeworfen wurde. Beim Weiterspielen konnte ich das verhindern. Eine andere Mitspielerin konnte nicht gut hören. Dieser Frau zeigte ich alle nötigen Bewegungen, langsam, nachvollziehbar. Alle waren bei der Sache, alle zufrieden, die Stimmung lockerte sich. Manche lachten, wenn sie eine Spielfigur verloren, ein Mann half seiner Nachbarin beim Würfeln. Die Zeit verging für uns alle sehr schnell. An diesem ersten Morgen dauerte unser Spiel über eine Stunde. Die Betreuerinnen waren erstaunt darüber, dass die Gäste mit mir so lange gespielt hatten.
In den nächsten Wochen versuchte ich, den Kranken unterschiedliche Montessori-Materialien und selbst erstellte Spiele anzubieten. Fast alle Beschäftigungen wurden von ihnen angenommen, sodass es Freude machte, immer wieder Neues zu versuchen.
Da die Gäste immer weitere, neue Tätigkeiten ausführten, fragten mich die Betreuer: „Wie machen Sie das?“
Ich überlegte: Was mache ich anders? Ich frage immer: „Möchten Sie mitmachen, haben Sie Lust? Sie können jederzeit aufhören.“
Um diese Methode, die auf Maria Montessori zurückgeht, zu erklären, brauchte ich Zeit. So trafen wir uns dienstags, um Montessori-Material kennenzulernen und auch die Arbeit damit praktisch durchzuführen. Herr Prof. Dr. Schmutzler ergänzte die praktische Arbeit mit dem theoretischen Hintergrund. Nach einem Jahr konnten wir den Betreuerinnen die Bescheinigung über die Fortbildung überreichen, ein Zertifikat Montessori für Demenzkranke und Senioren. Sie konnten nun das Erlernte selbst weitergeben.
Das Ziel unserer Montessori-Arbeit war hauptsächlich, so viel wie möglich Eigenständigkeit und Freude am Tun zu erhalten oder wieder zu erlernen.
Ich möchte mich bei Frau Schmela, der Leiterin der Tagespflege, und ihren Mitarbeiterinnen herzlich bedanken, dass ich bei ihnen so viele Erfahrungen machen durfte: Spiele in allen Bereichen, wie Sinnesübungen, Übungen des täglichen Lebens, Musik, Mathematik, Sprache, wie Gedichte, Geschichten, Reime und Bildbeschreibungen.
Die Zeit bei Ihnen werde ich nie vergessen!
Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei der Führung des Seniorenzentrums St. Martinus, Haus Katharina, vor allem bei der Leiterin Frau Wilmsen, die mir den Raum zur Verfügung stellte, den ich für die Montessori-Arbeit mit Senioren einrichten durfte, die mir vertraute und mich unterstützte.
Danke auch den Mitarbeitern des Hauses, die mir freundlich und hilfreich zur Seite standen, und den Kursteilnehmern des einjährigen Lehrganges Montessori für Demenzkranke und Senioren.
Ich möchte auch Frau Jolanta Mielcarek Danke sagen, sie hat mit viel Geduld viele Bilder geknipst. Danke auch Herrn Dr. Jürgen Behnel für seine Fotos.
Ich möchte mich auch beim Verlag Renate Götz und deren Mitarbeiterinnen bedanken, die viel Geduld mit mir hatten.
Ich habe immer die Schreibweise der Patient, der Kranke, der Betreuer verwendet - gemeint sind damit aber immer Männer und Frauen.
Ihre Hella Klein
Die Demenz vom Alzheimer-Typ ist eine Krankheit des Gehirns, während ihres Verlaufes werden die Gehirnzellen zerstört. Es gibt keine medizinische Möglichkeit, diesen Vorgang zu stoppen.
Die Krankheit verläuft bei jedem Patienten unterschiedlich. Man kann von drei Stufen ausgehen, die fließend ineinander übergehen. Charakteristisch für Alzheimer-Demenz ist ihr schleichender, fast unmerklicher Beginn.
Am Anfang treten kleine Gedächtnislücken und Stimmungsschwankungen auf. Die Lern- und Reaktionsfähigkeit nimmt langsam ab, gleichzeitig kommen Sprachschwierigkeiten hinzu. Die Erkrankten benutzen nur noch einfache Sätze oder kurze Wörter.
Die örtliche und zeitliche Orientierung geht verloren und die Patienten werden immer unruhiger. Sie merken, dass etwas nicht stimmt. Angst und Unsicherheit überkommen die Kranken, sie verschließen sich zunehmend allem Unbekannten und allem Neuen. Die Kranken spüren in diesem Stadium bewusst die Veränderungen, die in ihnen vorgehen. Viele reagieren mit Angst und Wutausbrüchen, andere mit Niedergeschlagenheit oder Beschämung.
Im weiteren Verlauf werden Symptome immer offensichtlicher. Autofahren oder der Beruf können nicht mehr ausgeführt werden. Die kranke Person ist bei Alltagsaufgaben, Körperpflege, Nahrungsaufnahme zunehmend auf Hilfe angewiesen.
Im Spätstadium ist der Demenzkranke vollkommen auf Pflege und Betreuung angewiesen. Angehörige werden nicht mehr erkannt, ein Gespräch ist nicht mehr möglich.
Erkennen von demenziellen Erkrankungen
Mir wurde die Leitung einer Kindertagesstätte im „Sozialen Brennpunkt“ mit 90 bis 100 Kindern im Alter von 3 bis 12 Jahren angeboten, mit der Auflage, diese Einrichtung nach der Montessori-Pädagogik zu führen. Ich belegte einen zweijährigen Montessori-Diplomlehrgang und erhielt nach bestandener Prüfung das Montessori-Diplom.
Die Arbeit in diesem Sozialen Brennpunkt war anfangs für mich katastrophal. Die Kinder kannten keine Regeln, hatten in ihrem Leben kaum positive Erfahrungen gemacht, sondern traumatische Erlebnisse wie Misshandlungen und Missbrauch erlebt. Sehr oft kamen sie hungrig in unsere Einrichtung, Körperpflege gab es selten. Wir brauchten Wochen, um unsere Kinder vom Läusebefall zu befreien.
Erst nachdem ich die Montessori-Pädagogik kennenlernte und zaghaft bei unseren Kinder anwandte, löste sich das verkrampfte Miteinander. Wir akzeptierten die Kinder so, wie sie zu uns kamen, und konnten schon bald kleine Erfolge erleben.
Viele Leser werden fragen: Wer war Montessori? Der Name sagt mir nichts. Ich selbst habe bis zu meinem 40. Lebensjahr nicht gewusst, wer Maria Montessori war.
Maria Montessori war die erste Frau, die in Italien unter großen Schwierigkeiten mit Erfolg Medizin studierte. Sie setzte sich für mehr Freiheit der Frauen ein und kümmerte sich, von der Mutter angeregt, um minderbemittelte, arme Kinder und deren Familien.
Ihre Assistenzzeit als Ärztin verbrachte sie in einer Nervenklinik, in der auch die Kinder des Pflegepersonals untergebracht waren. Diese Kinder waren sich selbst überlassen, es gab kein Beschäftigungsmaterial, keine Spielsachen und keine Anregungen.
Vor Langeweile versuchten die Kinder, mit allen möglichen Gegenständen „etwas zu tun“. Bevor sie zum Beispiel ihr Brot aßen, formten sie aus dem Brot Kügelchen, um damit zu spielen.
Diese Beobachtung war der Ansatz für Maria Montessori, nach dem „Warum“ zu fragen. Sie interessierte sich nun für pädagogische Schriften, probierte bewährte Materialien mit den Kindern aus, veränderte diese nach Bedarf, zeigte den Kindern das Material und war erstaunt, wie schnell, konzentriert und mit wie viel Freude die Kinder sich damit beschäftigten.
• Der Montessori-Pädagoge sieht die Kinder als selbstständige, sich selbst
aufbauende Wesen, die nach ihrem Entwicklungsstand, ihren Interessen
und den sensiblen Phasen methodisch-didaktisches Material brauchen.
• Der Montessori-Pädagoge plant die Förderung nach Beobachtung je-
des einzelnen Kindes, dabei beachtet er, dass für jedes Kind in der Frei-
arbeit Angebote, die seinen Interessen entsprechen, vorhanden sind.
• Der Montessori-Erzieher gestaltet die „Vorbereitete Umgebung“ für je-
des Kind, unter Berücksichtigung seiner Entwicklung, seiner sensiblen
Phasen und seiner individuellen Interessen.
• Der Montessori-Erzieher gestaltet den Raum nach pädagogischen und
ästhetischen Kriterien. Er ist Vorbild in der Sprache und in der Ordnung.
Er ist die Seele, der Helfer, der dem Kind hilft, sich nach seinem inne-
ren Plan aufzubauen, um Schritt für Schritt selbstständig zu werden.
Das Kind ist der Baumeister des Menschen. Maria Montessori |
Die ersten Anzeichen der Demenzerkrankung sind unterschiedlich und kaum definierbar. Manchmal treten sie plötzlich, unerwartet, für kurze Zeit auf und werden vom Kranken sofort vergessen. Der Kranke verändert sein Verhalten, der Partner merkt es zunächst nicht. Der Kranke wirkt ängstlich, er merkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt, sein Kurzzeitgedächtnis ist geschädigt.
Ein Beispiel: Ein Mann fragt nach dem Aufstehen: „Was haben wir heute für einen Tag?“ Er hört die Antwort: „Montag.“ Nach kurzer Zeit kommt die Frage, in gleicher Wortfolge: „Was haben wir heute für einen Tag?“ Der gesunde Partner ist zunächst erstaunt und antwortet: „Montag, habe ich dir doch gerade gesagt.“ Nach einigen Minuten fragt der unerkannte Kranke: „Was haben wir heute für einen Tag?“ Der gesunde Partner wird ungeduldig und sagt mit missmutiger Stimme: „Das habe ich dir doch schon dreimal gesagt, was machst du mit mir für Spielchen?“ Der Kranke antwortet wütend: „Ich habe das noch nicht gefragt!“ oder rennt aus dem Zimmer oder brüllt: „Ich bin doch nicht verrückt, was willst du von mir?“
Nach diesem Vorfall kann sich der Kranke wieder fast normal verhalten.
Kleine Veränderungen wie nachts aufstehen, die Uhrzeit vergessen, nimmt man nicht so ernst, das schreibt man dem Alter zu. Schlimm wird es, wenn der kranke Partner das Waschbecken mit der Toilette verwechselt, das abstreitet und behauptet, das müsse ein anderer gewesen sein.
Langsam merkt der gesunde Partner: Mit meinem Mann/meiner Frau stimmt etwas nicht. Der Partner ist nicht mehr der Kumpel, auf den ich mich verlassen kann. Er ist nicht mehr wiederzuerkennen.
Ein Beispiel, das ich selbst mit meinem Mann erlebte:
Wenn ich ihn fragte: „Möchtest du mit mir einkaufen?“, erwiderte er: „Nein.“ Nach einigen Minuten informierte ich meinen Mann: „Gleich, wenn Frau N (Betreuerin) kommt, gehe ich einkaufen.“ „Ich gehe mit“, brüllte mein Mann, „du willst mich nur nicht mitnehmen, weil du mein ganzes Geld ausgibst.“ „Du wolltest doch nicht mitgehen, das hast du doch gerade gesagt“, erwiderte ich ihm. „Das ist nicht wahr, du willst nicht, dass ich mitgehe“, brüllte er noch wütender und trat gegen die Tür. „Die Frau N braucht nicht zu kommen, ich gehe mit.“
Er konnte auch aggressiv werden, zum Beispiel wenn das Telefon klingelte und ich den Anruf annehmen wollte, durfte ich manchmal nicht telefonieren. Ging ich trotzdem zum Telefon, kam er und schlug mir auf die Hände. Ich reagierte darauf erschrocken und ging in mein Zimmer.
Nach einer Weile kam er zu mir, er hatte den Vorfall vergessen, während ich noch ganz aufgeregt und böse auf ihn war. Ich wollte mit ihm über das Geschehene sprechen, aber er ging ins Wohnzimmer, sagte gar nichts mehr und zog sich in sich selbst zurück. Ich brauchte einige Zeit, um ihm in Ruhe wieder zu begegnen.
Andere Kranke sagen und reagieren gar nicht mehr auf unsere Ansprache. Sie starren in die Luft oder auf den Tisch, sie verkrampfen ihre Hände, trippeln mit den Füßen, stecken alles, was in ihrer Nähe fassbar ist, in den Mund.
Das sind einige Verhaltensweisen, die auftreten können und die sich unaufhaltsam verändern. Wenn wir keinen Weg zu diesen Menschen finden, vegetieren sie vor sich hin.
Bei einer Demenzerkrankung kann nicht vorausgesagt werden, wie sie verläuft. Die ersten Anzeichen zeigen sich oft in Stresssituationen, z. B. beim Warten im Wartezimmer, auf den Bus, an der Kasse im Einkaufszentrum. Die Kranken haben Angst. Stellen Sie sich vor: Sie stehen morgens auf und wissen nicht mehr, wo die Toilette ist! Sie erkennen Ihre Wohnung nicht mehr! Sie wollen nach Hause! Wo ist dieses Zuhause?
Viele Demenzkranke verspüren eine innere Unruhe. Sie wollen weg, wissen aber nicht, wohin. Wenn sie die Möglichkeit haben, dann laufen sie ziellos davon. Da ist es ihnen gleich, welche Kleidung sie tragen, auch im Schlafanzug, nur weg, eine innere, nicht zu erklärende Unruhe treibt sie an.
Das Zusammenleben kann für den gesunden Partner zur Qual werden. Wir wollten doch zusammenbleiben, „bis dass der Tod uns scheidet“, aber ist dieser Partner noch mein Mann, meine Frau? In welcher Welt lebt er oder sie?
Die Diagnose Demenz erhielt ich sieben Jahre vor dem Tod meines Mannes. Ich kannte die Krankheit nicht, weder die Symptome am Anfang, den Verlauf, noch das Ende. Ich machte viele Fehler, ich konnte sein Tun nicht verstehen. Das war nicht mehr mein Mann, er war nicht mehr der liebevolle Partner, der Freund und fürsorgliche Kamerad. Das gemeinsame Planen und Absprechen unseres Lebens war nicht mehr gegeben.
Ein Zufall zeigte mir einen Zugang zu meinem Mann. Wie gewöhnlich fragte er mich an einem Morgen: „Was haben wir heute für einen Tag?“ Ich wusste es in diesem Moment auch nicht und sagte ihm das: „Ich weiß es auch nicht. Komm, wir gehen zum Kalender und schauen gemeinsam nach.“ Er schaute mich ganz zufrieden an, nahm meine Hand und wir gingen Hand in Hand zum Kalender. Dort zeigte ich mit dem rechten Zeigefinger auf das Datum und den passenden Wochentag - Mittwoch.
Mein Mann nahm mich in den Arm, was schon lange nicht mehr geschehen war, und fragte mich: „Wann fahren wir wieder auf Urlaub?“ Ich holte tief Luft und antwortete spontan: „Ostern.“ Er nickte, nahm eine Illustrierte und meinte: „Ich suche mir einen Ort aus.“ Dann fragte er: „Wann fahren wir?“ Ich antwortete: „Ostern.“ Der kleine Augenblick von alter Vertrautheit war schnell verschwunden.
Ich bin Dozentin für Montessori-Pädagogik, ich hatte mit Kindern, die in einem Sozialen Brennpunkt wohnten, gearbeitet und vielen helfen können, indem sie lernten, selbstständig zu werden. Wir versuchten, ihnen Selbstständigkeit zu ermöglichen, ihnen Freude beim Lernen zu vermitteln und ihnen zu zeigen, dass sie für uns wertvolle, einzigartige Menschen sind.
Ein sehr wichtiger Grundsatz von Maria Montessori lautet: „Hilf mir, es selbst zu tun, dann hilfst du mir, ich selbst zu bleiben.“
Um diese Hilfe dem Demenzkranken, dem Behinderten, den Senioren zu geben, muss ich durch Beobachten feststellen:
Zum Beispiel ließ ich bei einem Schreiner einen aus Holz gefertigten Kalender herstellen. Täglich konnten mein Mann und ich zusammen einen Holzzeiger nach rechts weiterschieben und sahen den Namen des Tages, das Datum und den Monat. Um die Monatsnamen im Spiel zu wiederholen, erstellten wir ein Jahreskreis-Spiel. (Siehe Bewegungsanalysen im Abschnitt Praxis)
Um den Demenzkranken zu verstehen, müssen wir den möglichen Verlauf der Krankheit kennen und den Kranken beobachten. Wo sind noch Kompetenzen, was macht dem Patienten noch Freude, belebt sein Selbstwertgefühl und stärkt die Würde dieses einmaligen Menschen, der mir anvertraut ist?
Maria Montessoris Pädagogik beruht auf:
Mundbewegungen beim Sprechen zeigen.
Manchmal träumen die Kranken oder glauben, Angehörige zu sehen, oder leiden unter Halluzinationen. Auch das können krankheitsbedingte Erscheinungen sein.
Was kann der Partner oder Angehörige tun, um das Zusammenleben mit dem Behinderten, dem alternden Senior oder Demenzkranken für beide Seiten erträglicher zu machen?
Die freie Wahl der Tätigkeit ist der Beginn der Würde des Menschen. Maria Montessori |
Da der Demenzkranke zuerst das Kurzzeitgedächtnis verliert, weiß er nach kurzer Zeit nicht mehr, was er vorher gesagt oder getan hat.
Ein Beispiel: Ein demenzkranker Mann geht mit seiner Frau zum Einkaufen in einen größeren Laden. Er schiebt den Einkaufswagen, seine Frau sucht die nötigen Lebensmittel und Waren aus. Er ist zunächst friedlich und umgänglich. Plötzlich bleibt er an der Fleischtheke stehen, legt mehrere verpackte Fleischportionen in den Einkaufswagen, dreht sich um und füllt den Einkaufswagen wahllos mit Waren, die gar nicht oderzur Zeit nicht gebraucht werden. Die Frau kommt mit einem Paket Butter und sieht ihren Mann, der den schon fast vollen Einkaufswagen weiterhin füllt. Sie spricht ihren Mann an. Dieser hört nicht, er ist beschäftigt, lächelt zufrieden und ist ganz erstaunt, dass seine Frau mit ihm schimpft. Als seine Frau anfängt, die Lebensmittel, die nicht gebraucht werden, wieder in die Regale zu legen, reißt er ihr die Sachen aus der Hand und schreit: „Die Sachen brauch ich alle, ich habe Hunger und du gibst mir nichts zu essen. Ich habe immer Hunger.“
Um den Einkaufswagen versammeln sich sehr schnell Neugierige, einige beschimpfen den tobenden Mann, andere meinen, die Alte sei eine Hexe, der arme Mann müsse hungern.
Die ältere Frau steht da, hat Tränen in den Augen und weiß nicht mehr weiter. Am liebsten würde sie Mann und Einkaufswagen stehen lassen, um schnell zu flüchten. Ein Fremder spricht den Mann an, der Kranke konzentriert sich auf den Fremden, lässt den Einkaufswagen und seine Frau stehen, hat offensichtlich den Vorfall vergessen und freut sich über die vielen Menschen, die um ihn herum stehen. Und die jetzt plötzlich vermuten, dass dieser Mann vielleicht getrunken hat.
Diese Gemütsschwankungen sind erklärbar. Das Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr. Wenn der Kranke abgelenkt wird oder etwas Neues sieht oder hört, sind die vorausgegangenen Begebenheiten vergessen.
Wenn der Demenzkranke etwas behauptet, schimpft, schreit oder sich verkriecht – dann ablenken! Z. B.: „Hast du draußen den Vogel gesehen? Hat das Telefon geklingelt? Das Essen ist fertig, möchtest du essen? Weißt du schon, dass unser Enkel heute kommt?“
Noch besser ist es, wenn weitere Angehörige oder Freunde, Bekannte aber auch Fremde den Demenzkranken in solchen Situationen ansprechen, wenn der Fremde einfach nur fragt: „Kennen wir uns nicht?“
Ruhe ausstrahlen, nicht widersprechen, sondern ablenken!
Demenz im Anfangsstadium zu erkennen, ist sehr schwer. Vor allem bei älteren Menschen, die in allen Tätigkeiten langsamer und bedächtiger sind, manchmal die Brille suchen, einmal vergessen, eine Türe zu schließen. So fällt es zunächst nicht auf, dass der Partner oder die Partnerin heute schon
viermal gefragt hat: „Was machen wir heute?“
Ein Beispiel aus meiner Erfahrung mit meinem Mann:
Wir hatten den Tag geplant, aber nach einiger Zeit kam die Frage: „Müssen wir heute einkaufen?“ Wir hatten eigentlich verabredet, unsere Tochter zu besuchen. Ich staunte und sagte: „Wir wollten doch nach Mettmann, die Kinder besuchen!“ Keine Antwort.
Wir fuhren also nach Mettmann. Alle freuten sich über das Wiedersehen. Nach einiger Zeit sagte mein Mann: „Wo sind wir hier, wo hast du mich hingebracht?“ Unsere Tochter rief erstaunt: „Papa, du bist doch bei uns!“ Er fragte leise: „Was will die Frau von mir?“ Ich war verwirrt und sagte zu unserer Tochter: „Dein Vater hat schlecht geschlafen.“ Er antwortete: „Ja, ich habe schlecht geschlafen“, benahm sich dann wieder fast normal und sie atmete auf.
Die nächsten Tage gingen ohne Zwischenfälle vorüber. Ich sagte mir: „Wer weiß, wie ich reagiere, wenn ich so alt bin, wie mein Mann jetzt ist.“
Kurze Zeit später besuchte ein Freund meinen Mann. Die Männer unterhielten sich angeregt über alte Zeiten. Plötzlich stürmte der Freund zu mir in die Küche: „Was ist mit ihm los? Der hat mich angeschrien, ich soll gehen, ich bin schuld, wenn es Krieg gibt. Dabei habe ich nur im PC nachgeschaut, ob Fortuna-Düsseldorf Sonntag das Fußballspiel gegen Mönchengladbach gewonnen hat.“
Ich entschuldigte mich bei dem Freund, er ging und ich blieb sehr nachdenklich zurück.
Am nächsten Tag schilderte ich das Erlebte telefonisch unserem Hausarzt, der meinen Mann schon 30 Jahre kannte. Der Arzt beruhigte mich und meinte: „Das ist das Alter, das wird noch schlimmer.“ Mit dieser Auskunft war ich nicht zufrieden.
Ich kaufte Bücher und las das erste Mal bewusst, was Alzheimer-Demenz ist. Ich holte mir Rat bei einer Psychologin für ältere Menschen. Sie erklärte mir die Krankheit:
Dass Menschen mit Demenz ihr Gedächtnis verlieren und dass der Verlauf der Krankheit sehr unterschiedlich ist.
Wie die Kranken behandelt werden sollen, wie die Angehörigen mit ihnen umgehen können und sollen, konnte mir keiner sagen.
So machte ich bei meinem Mann sehr viele Fehler, indem ich ihn verbesserte, wenn er etwas Falsches sagte, oder wenn er etwas verneinte und Falsches behauptete.
Da die Krankheit mit dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses beginnt, hat der Kranke in kurzer Zeit vergessen, was er gefragt, gesagt oder behauptet hat, sodass ablenken, beruhigen, ein neues Thema anschneiden, den Patienten beruhigt und es nicht zu lauten Diskussionen und Handgreiflichkeiten kommen muss.
Wenn der Partner in dieser Phase seiner Krankheit ist, sollten sich die gesunden Partner nicht in ihrer Wohnung zurückziehen, sondern Angehörige und Freunde wie gewohnt einladen oder mit dem Kranken Besuche machen. Wichtig ist nur, dass die Verwandten und Freunde von der Krankheit und der Möglichkeit eines plötzlichen, unverständlichen Verhaltens des Kranken wissen. Notfalls wäre es ratsam, Beschäftigungsmaterial, das dem Kranken bekannt ist, immer bereit zu haben. So werden auch die Partner der Kranken nicht isoliert.
Ich habe am Anfang der Demenzerkrankung meines Mannes noch eine Schifffahrt mit ihm unternommen. Am Anfang berichtete ich dem Stuart von der Krankheit, alle Bediensteten waren informiert. Sie begegneten meinem Mann respektvoll, halfen, wenn nötig, und keiner lachte über ihn. Im Gegenteil, sie hörten ihm zu, auch wenn er seine Geschichten schon öfters erzählt hatte.
Mit fortschreitender Krankheit wird die Umgebung der Betroffenen weitgehend von den noch vorhandenen Erinnerungen geprägt. Sie leben mit den alten Erinnerungsbildern der erlebten, vergangenen Zeit und so verhalten sie sich auch.
Ein Kranker, der regelmäßig die Tagesstätte für Senioren und Demenzkranke besuchte, meinte immer, er gehe zum Sport, und brachte jedes Mal Turnschuhe und Turnhose in einem Beutel mit.
Das Leben in der Vergangenheit gibt den Kranken Halt und Sicherheit.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1, Absatz 1 |